Wenn ein Kind ins Leere greift

Bei Leere-Erfahrungen und Bindungsstörungen gibt es keine blauen Flecken, keine ausgesprochenen Worte. Und dennoch sind Kinder nachhaltig belastet. „Spürende Begegnungen“ können helfen.

Wenn Stefan nach seiner Mutter greift und mit ihr kuscheln will, dann reagiert seine Mutter nicht. Er greift ins Leere. Sie hat die Trauer nicht bewältigen können, seit ihr Mann sie verlassen hat, und ist in eine depressive Grundstimmung geglitten. Stefan spürt, dass seine Mutter Kummer hat. Er will sie trösten und braucht selbst Trost. Doch sein Blick und seine Worte werden nicht erwidert. Und wenn er sie umarmen und sich an ihr festhalten will, wendet sie sich ab. Nicht aus bösem Willen (sie liebt Stefan), sondern weil sie ihn nicht versteht, weil die Depression zwischen ihnen steht. Stefan greift ins Leere. Irgendwann gibt Stefan auf. Er greift nicht mehr nach anderen Menschen. Er zieht sich zurück. Auch im Kindergarten.

Solche Erfahrungen der Leere sind von großer Bedeutung für Kinder. Sie kommen unscheinbar daher, man sieht keine blauen Flecken und die Kinder finden keine Worte dafür. Und doch haben sie nachhaltige Wirkungen. Denn Kinder brauchen es, dass ihr Blick erwidert, ihre Stimme erhört, ihre ausgestreckten Arme ergriffen werden. Sie brauchen lebendigen Kontakt.

Wenn dieser lebendige Kontakt wiederholt nicht gelingt, kann das unterschiedliche Gründe haben. Ein häufiger Hintergrund sind depressive Erkrankungen der Mütter. Manchmal werden Mütter durch die kleinen Kinder, meist Säuglinge, an eigene traumatische Erfahrungen erinnert („getriggert“), so dass sie nicht zu Nähe fähig sind. Auch Tablettenabhängigkeit oder Alkoholismus sind häufige Ursachen. Welcher Quelle die Unfähigkeit der primären Bezugspersonen, meist der Mütter, entspringt, spürende Begegnungen mit ihren Kleinstkindern zu entwickeln und sie nicht ins Leere gehen zu lassen, ist für das Erleben der Kinder zweitrangig. Wesentlich ist, dass nachhaltige Leere-Erfahrungen für Kinder nicht aushaltbar sind. Daraus ergeben sich die Folgen.

Manche Kinder wie Stefan geben auf. Sie versuchen nicht mehr, den Kontakt herzustellen und ziehen sich zurück. Manche verstummen. Andere Kinder werden aggressiv. Sie bemühen sich, den Kontakt zu erzwingen. Sie hauen, beißen, kratzen ohne Anlass. Diese Aggressivität braucht auch keinen Anlass, sie entspringt der Leere-Erfahrung. Diese Kinder haben die Erfahrung, dass „normaler“ Kontakt nur in Frustration mündet, also versuchen sie, Kontakt zu erzwingen, oft verzweifelt.

Angst vor Enttäuschung:

Kinder, auch und gerade kleine Kinder, fühlen sich für das, was sie nicht verstehen, selbst verantwortlich. Wenn die Mutter oder der Vater den Blick nicht erwidert und sich vom Trost suchenden Kind abwendet, versteht das Kind dieses Verhalten nicht, kann es nicht verstehen. Also fühlt es sich selbst daran schuldig. Mit zunehmendem Alter und wiederholten Erfahrungen kann daraus das Selbstbild werden: Ich bin es nicht wert, dass man mir antwortet, dass man mich in den Arm nimmt.

Daraus wird verständlich, dass fast alle Kinder mit nachhaltigen Leere-Erfahrungen misstrauisch werden, wenn plötzlich eine Kindergartenpädagogin oder ein Kindergartenpädagoge sich ihnen interessiert nähert. Das kennen sie nicht. Sie vermuten unbewusst, dass sie wieder enttäuscht werden. Um diese Erfahrung zu vermeiden. wehren sie die Annäherungsversuche ab – das ist für PädagogInnen wichtig zu wissen. Kontaktaufnahme gelingt nur durch das Misstrauen hindurch.

Für jeden Menschen ist es eine kränkende Erfahrung, wenn er mit seinem Bemühungen um Kontakt und Nähe ins Leere geht. Das Drama der Leere besteht vor allem in den langfristigen Folgen für das Bindungsverhalten. Neben Gewalterfahrungen und unbetrauerten Verlusten sind Leere-Erfahrungen eine der Hauptquellen für Bindungsstörungen.

Nicht greifbar:

Die fünfjährige Lucy ist im Kindergarten nicht greifbar, weder für andere Kinder noch für die Kindergartenpädagog*nnen. Wenn man sie anspricht, schaut sie weg, scheinbar völlig unbeteiligt, als wäre man gar nicht da. Im freien Spiel beteiligt sie sich nicht, geht dann plötzlich beim Spiel anderer Kinder dazwischen und stört oder macht etwas kaputt. Ruhige Phasen hält sie nicht aus und rast umher.

Bei Lucy kann man eine „desorganisierte Bindungsstörung“ diagnostizieren. Sie war im Säuglingsalter verwahrlost, wurde vernachlässigt. Die Mutter war tablettenabhängig, der Vater verließ die Familie vor der Geburt. Vermutlich wurde Lucy geschlagen. Sie kam im Alter von eineinhalb Jahren in eine Pflegefamilie. Die Pflegeeltern bemühten sich sehr und hatten einige Erfolge, Lucys Vertrauen zu gewinnen. Doch als die Pflegefamilie – für sie selbst überraschend – ein eigenes Kind bekam, wurden diese Erfolge nichtig. Anscheinend fühlte sich Lucy wieder so verlassen wie in den ersten eineinhalb Lebensjahren und reagierte völlig verstört.

Lucy hatte in den ersten beiden Lebensjahren viele Leere-Erfahrungen machen müssen. Die Mutter hatte ihr Schreien nicht erhört und sie nicht in den Arm genommen. Der „Tanz der Augen“ und der Sinne, von dem Säuglingsforscher Daniel Stern spricht, gelang nicht.

Rückzug und Aggressivität:

Diese Erfahrungen waren für Lucy nicht aushaltbar – sie regaierte mit einem Verhalten, dass sich im Kindergarten zeigt. Begegnungen mit anderen Kindern und Erwachsenen sind ihr nicht selbstverständlich. Sie kennt nur Alleinsein oder Gewalt. Solche Erfahrungen sind zu einem Muster ihres Erlebens geworden. Aslo lebt sie in Rückzug und Aggressivität. Situationen der ruhe verbindet sie mit Leere, dagegen wehrt sie sich und wird unruhig und laut. Näheangebote bedeuten für sie die Wahrscheinlichkeit der Enttäuschung, also wehrt sie sie ab.

Wenn Kinder wie Lucy nicht „greifbar“ sind, dann zeigen sie uns Erwachsenen, was sie erlebt haben: Ihre Umwelt war für Lucy nicht „greifbar“, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, Die „Weisheit der Kinder“ besteht auch darin, dass sie in uns Erwachsenen die Gefühle bewirken, die sie selber spüren, die sie aber nicht benennen können. Die Kindergartenpädagog*nnen waren im Umgang mit Lucy hilflos und verzweifelt – Lucy auch.

Das Gegenteil von Leere

Wie können Kindergartenpädagog*nnen Kindern wie Lucy und Stefan helfen? Was beide brauchen, sind neue Erfahrungen. Im Kindergarten können die schlimmen Erfahrungen nicht rückgängig gemacht werden, aber wir können den Kindern neue Erfahrungen der Begegnung anbieten. Wir nennen das „spürende Begegnungen“, ein Konzept, das aus der Säuglings- und Therapieforschung entwickelt wurde. Das Gegenteil von Leere sind Berührungen, sind Blickkontakte und Stimmdialoge, sind Erfahrungen des Drückens und des Sich-Anlehnens. Es gilt, das Verhalten des Kindes als Notwehr und Bewältigungsversuch unaushaltbarer Situationen der Leere zu verstehen. Kinder spüren das.