Umgang mit traumatisierten geflüchteten Kindern

 

1            Was ein Trauma ist

Ein Trauma ist eine Wunde. Das Wort Trauma stammt aus dem Altgriechischen und bezeichnet Wunden: körperliche Wunden und seelische Wunden. In der Medizin sind Traumata Wunden, die einen Schock hervorrufen und sehr schwerwiegend sind. Auch in der Psychologie werden mit Traumata nicht alle Verletzungen bezeichnet. Das würde den Begriff inflationär verbreiten und letzten Endes zu dessen Verharmlosung beitragen.

Damit eine seelische Verletzung ein Trauma ist, bedarf es zweier Kriterien: Dass diese verletzende Erfahrung als existenzielle Bedrohung erlebt wird und dass sie die Menschen mit dem, was ihnen gerade an Bewältigungsmöglichkeiten zur Verfügung steht, überfordert. Hinzu kommt, dass Traumata die Eigenschaft haben, bei den meisten Menschen nachhaltige Wirkungen zu zeigen. Mit allen drei Aspekten werden wir uns im ersten Kapitel beschäftigen. Beginnen wir mit der existenziellen Bedrohlichkeit.

1 a         Die Wunde, die existenziell bedroht

Viele Flüchtlinge mussten Erfahrungen machen, bei denen es um Leben und Tod ging. Solche Situationen erfuhren sie im Heimatland, durch Gefängnis, Folter und Krieg, und solche traumatischen Situationen erlebten sie auf der Flucht. Wer ein seeuntüchtiges Schlauchboot besteigt und sich auf das Mittelmeer wagt, in der Hoffnung von irgendwem gerettet zu werden, begibt sich in eine lebensgefährdende Situation.

Eine Besonderheit von Traumatisierungen besteht darin, dass Menschen nicht unmittelbar betroffen sein müssen, um traumatisiert zu sein. Es reicht, wenn sie Zeuge oder Zeugin von existenziell bedrohlichen Situationen sind.

Rafik ist neun Jahre alt. Er lebte vor der Flucht in einem Vorort von Aleppo. Das Nachbarhaus wurde bombardiert und völlig zerstört. Er selbst wurde von der Druckwelle in einen Graben geworfen und verletzte sich nur leicht. Als er sich wieder aufrappelte, musste er feststellen, dass die Bewohner des Nachbarhauses getötet worden waren, darunter ein Junge, mit dem er jeden Tag zur Schule gegangen war.

Randa ist 35 Jahre alt und Yesidin. Sie lebte im Nordirak. Vor den heranrückenden IS-Truppen gelang ihr mit ihrer Familie, einschließlich ihrer 13-jährigen Tochter, die Flucht. Bei einem Zwischenstopp auf der Flucht erfuhr sie, dass die 14-jährige Freundin ihrer Tochter von IS-Truppen gefangen, verschleppt und mehrfach vergewaltigt wurde und sich in ihrer Verzweiflung selbst getötet hat. Als sie dies hörte, stiegen in ihr Bilder hoch, dass dies auch ihrer Tochter passieren könnte oder widerfahren hätte sein können, und sie bekam einen Schreikrampf.

Beide Menschen, von denen wir hier erzählen, sind traumatisiert, nicht weil ihnen selbst der Schrecken widerfahren ist, sondern weil sie dies miterlebt haben mit Menschen, die sie kannten und mit denen sie eine innere Verbindung hatten. Wie genau solche Co-Traumatisierungen ablaufen, ist neurobiologisch über die Spiegelneuronen annähernd zu erklären, aber noch nicht genau zu beschreiben. Doch sicher ist, dass diesem Prozess die menschliche Fähigkeit des Mitgefühls zugrunde liegt. Wir Menschen sind dazu in der Lage, uns in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Freude wie auch deren Leid als unseres zu empfinden. Freude und Lachen sind ansteckend, aber auch das Leid und der Schrecken. Dadurch kann eine durchaus positive und nützliche Fähigkeit auch zu Leid führen, indem der Schrecken der unmittelbar Betroffenen auf dem direkten und indirekten Zeug/innen ausgreift.

Zu der traumatischen Situation gehören folglich zwei Komponenten: das traumatische Ereignis und das Erleben dieses Ereignisses. Traumatische Ereignisse, die Flüchtlinge als existenziell bedrohlich erfahren haben, sind weitgehend bekannt: Dazu zählen die lebensgefährlichen Bedrohungen durch Flucht und Krieg, aber auch die Ängste und Erfahrungen, Familienmitglieder zu verlieren, sexuelle Gewalterfahrungen oder deren Androhung, Folter und politische Verfolgung, Hunger und vieles andere mehr. Diese Ereignisse sind relativ eindeutig und objektiv zu beschreiben. Das gilt für die zweite Komponente weniger, nämlich die Art und Weise, wie Flüchtlinge dieses Ereignis erleben. Zur traumatischen Situation zählt nämlich auch das Trauma erleben, nämlich die Art und Weise, wie Menschen von den Erfahrungen des traumatischen Ereignisses erschüttert werden. Da gibt es individuelle Unterschiede bei den einzelnen Menschen und in den unterschiedlichen Lebenssituationen. Zur traumatischen Situation gehört, dass das traumatische Ereignis als existenziell bedrohlich erlebt wird. Und das ist, wie schon mehrmals erwähnt, unabhängig davon, ob die Menschen selbst unmittelbar bedroht und betroffen waren oder ob sie als Zeugen das traumatische Ereignis mitbekommen haben.

1 b        Die Wunde, die überfordert

Für die meisten Menschen wird der unfreiwillige Verlust ihres Arbeitsplatzes eine Verletzung, zumindest eine einschneidende Veränderung ihrer Lebensumstände sein, aber sie nicht traumatisieren. Vielleicht sind manche sogar froh, den Chef oder die Chefin loszuwerden und sich etwas Neues suchen zu können, andere werden Angst haben, ob und wie sie eine neue Arbeit finden und sich Sorgen machen. Doch es gibt auch Menschen, für die eine solche Erfahrung des Arbeitsplatzverlustes ein Trauma ist. Sie sind in ihren Grundfesten erschüttert, also fühlen sich existenziell bedroht und sind überfordert mit der Herausforderung des Arbeitsplatzverlustes umzugehen und fertig zu werden.

Ein Trauma ist also eine Wunde, die nicht nur existenziell bedroht oder als bedrohlich erlebt wird, sondern auch in ihren Bewältigungsmöglichkeiten überfordert. Das gilt zumindest für die akute Situation, in der diese Erfahrung gemacht wird. Dass Erfahrungen wie Krieg, Schiffskatastrophen, Verfolgung und Vergewaltigung die Menschen in ihren Bewältigungsmöglichkeiten überfordern, liegt auf der Hand. Im menschlichen Organismus tritt in einer solchen traumatischen Situation ein Notfallprogramm in Kraft (gesteuert vor allem über die Amygdala), das gleichsam automatische Reaktionen in Gang setzt, bei denen Vernunft und Überlegung keine Rolle mehr spielen, sondern nur das Überleben zählt. Vernünftige Überlegungen haben dann keine Bedeutung mehr oder treten zumindest in den Hintergrund. Diese Überforderungsreaktionen werden in der Psychotraumatologie als fight or flight sowie freeze or fragment beschrieben.

Die erste Reaktion besteht im „fight“, also im Kämpfen gegen die Bedrohung. Dieses Kämpfen ist wild und unkontrolliert.

Der kleine Can hatte sich im Kampfgebiet zwischen IS und kurdischer Bevölkerung drei Tage lang in einem Erdloch versteckt. Er war weggelaufen, als die ersten Schüsse fielen und Granaten einschlugen und war danach für seine Eltern nicht mehr auffindbar. Als die Kampfhandlungen nachließen, suchten sie und fanden sie ihn. Er hatte, wie er später erzählte, die ganze Zeit versucht, sich die Ohren zuzuhalten, um den Kampflärm nicht mehr wahrnehmen zu müssen. Als seine Verwandten ihn fanden, begrüßte er sie nicht erleichtert, sondern rannt auf sie zu und kämpfte und boxte und schrie dabei verzweifelt …

Der Junge war, selbst als er gerettet wurde, noch im fight, im Kampfmodus, in der unwillkürlichen Verhaltensweise, um sich zu schlagen und gegen die Bedrohung zu kämpfen. Diese menschliche Reaktion mag nützlich sein, wenn Menschen von anderen Menschen konkret bedroht werden oder in früheren Zeiten von Tieren angegriffen werden. Dann mobilisiert der Körper alle Kräfte, um sich zu wehren, um einen Kampf zu bestehen. Doch was hilft dieser Kampfmodus, wenn Menschen vergewaltigt werden, wenn sie Bomben und Schüssen ausgeliefert sind. Dann gibt es keinen greifbaren Feind, zumindest keinen Feind, gegen den man überhaupt keine Chance hat, überhaupt erfolgreich kämpfen, und deswegen geht dieser Kampf, diese gesamte Kampfenergie ins Leere und kann nicht abflauen und sich beruhigen. Bei Z war dies der Fall. Er kämpfte innerlich in seinem Erdloch, sich gleichzeitig vor dem Lärm und den Kriegsgeräuschen schützend, gegen die Feinde, und als er gerettet wurde und seine Verwandten sah, konnte er nicht umschalten. Der Kampfmodus blieb noch einige Zeit bestehen.

Die Gegenrichtung des Kämpfens besteht im Fliehen: flight. Genau dies tun die hunderttausenden Flüchtlinge, die nach Deutschland und nach Europa kommen. Sie fliehen vor dem Schrecken, sie fliehen vor dem, was übermächtig ist, vor dem, was sie nicht bekämpfen können. So, wie einzelne Menschen, wenn sie zum Beispiel überfallen werden, möglicherweise ihr Heil in der Flucht suchen, so versuchen dies hunderttausende, ja Millionen Menschen.

Was tun, wenn ein Mensch weder kämpfen noch fliehen kann? Er erstarrt: freeze.

Nesrin war Lehrerin in einer Kleinstadt in Afghanistan. Als diese Kleinstadt für einige Tage von Talibantruppen besetzt wurde, wurde sie vergewaltigt. Sie hatte weder Chance, zu kämpfen noch zu fliehen – sie erstarrte. Sie erlebte sich wie eine Puppe, die vermeintlich teilnahmslos alles über sich ergehen ließ.

Wie N. ging und geht es vielen Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren müssen. Sie können sich nicht wehren und sie können nicht fliehen, also flüchten sie sich in die Erstarrung. Die äußere Starrheit wirkt oft als Ruhe oder Unbeteiligtsein, kann aber gleichzeitig mit extrem hoher Aufregung einhergehen.

Manchmal geht die Flucht über die Erstarrung hinaus und mündet in die nächste Komponente der unwillkürlichen Bewältigungsreaktionen von traumatischen Erfahrungen, in das fragment. Hier fragmentiert sich das Bewusstsein der Gewaltopfer. Ein Teil davon erlebt das Geschehen, der größere Teil spaltet sich ab und wirkt wie ein Zuschauer, der von außen die eigene Person betrachtet. Diese Fragmentierung, die oft in der Fachsprache als Dissoziation bezeichnet wird, kann sehr unterschiedliche Formen und Ausdrucksweisen haben. Sie kann dazu führen, dass Flüchtlingen zum Beispiel schlimme traumatische Erfahrungen mussten, sich an diese aber nicht mehr erinnern und meinen, ihnen sei nichts geschehen, obwohl ihr Körper zum Beispiel Folterspuren aufweist und Verwandte und Bekannte Schreckensgeschichten erzählen.

Alle vier Wege, auf traumatische Schreckenserfahrungen zu reagieren, sind hilflose Versuche, etwas zu bewältigen, was eigentlich nicht zu bewältigen ist. Sie machen ursprünglich Sinn. Zu kämpfen und zu fliehen kann genauso sinnvoll sein, wie sich in der Erstarrung zu verstecken oder Teile des Bewusstseins abzuspalten, wenn einem Unerträgliches widerfährt. Entscheidend ist, dass in vielen, ja in den meisten traumatisierten Flüchtlingen diese Bewältigungswege noch in irgendeiner Weise enthalten sind, dass sie in ihnen feststecken, so dass die Menschen immer wieder auf fight or flight, auf freeze or fragment zurückgreifen. Damit werden wir uns später beschäftigen, wenn es darum geht, einzelne Erscheinungsformen von Traumafolgen zu betrachten und zu verstehen.

1 c         Die Wunde, die nachwirkt

Eine traumatische Erfahrung ist existenziell bedrohlich und überfordernd. Dass eine solche Erfahrung in den meisten Menschen nachwirkt und dies über lange Zeit, liegt auf der Hand. Wenn Menschen traumatischen Schrecken erleben, dann erschüttert das die gesamte Person und Persönlichkeit.

Einige Flüchtlinge erzählen:

„Ich fühle mich, als wäre ich kaputt.“

„Ich habe gedacht, mein Leben ist zu Ende und irgendwie ist das auch. Ein Teil von mir ist weg, ist verschwunden, ist nicht mehr da.“

„Ich habe immer noch Angst. Ich erschrecke mich. Dieser ganze Mist ist immer noch in mir und da kann ich nichts tun.“

„Ich fühle mich, als wäre ich aus der Welt gefallen.“

Eine traumatische Erfahrung betrifft nicht nur das Denken eines Menschen, sondern das Leid, das gesamte Erleben, die gesamte Persönlichkeit mit all den Gefühlen, Verhaltensweisen, körperlichen Wahrnehmungen, inneren Bildern, Sinnesqualitäten und dergleichen mehr. Und der menschliche Organismus ist darauf eingestellt, dass solche existenziellen Bedrohungen sich besonders ins Gedächtnis einprägen, um den Organismus in späteren Zeiten davor schützen zu können, wieder in eine solche Situation hineinzugeraten. Deswegen wirkt diese Wunde, deswegen hat das Trauma nachhaltige Folgen und deswegen ist es so wichtig, um diese Traumafolgen zu wissen, damit in der Begleitung von Flüchtlingen – in der Schule wie am Arbeitsplatz, im Kindergarten wie in der Beratungsstelle, im Supermarkt wie in der Behörde – damit angemessen umgegangen werden kann.

Die bekannteste Diagnose einer nachhaltigen Wirkung ist die Posttraumatische Belastungsstörung. Sie ist aufgenommen in die internationale Klassifikation psychischer Erkrankungen. Dort wird sie wie folgt beschrieben:

„Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören eine durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge einesgewaltsamen Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderen Verbrechen zu sein.“[1]

Häufige Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung sind „Flashbacks“, also ein Wiedererleben des Traumas, ferner Gefühlsvermeidungen oder -abstumpfungen, sozialer Rückzug sowie das Vermeiden von Situationen, die an die traumatische Erfahrung erinnern können. Wichtig ist, dass die Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung“ nur für eine Minderheit der Menschen zutrifft, die an den Folgen von traumatischen Erfahrungen leiden. Jede traumatische Belastung, jeder Traumafolge, jeder Mensch muss individuell betrachtet werden. Diagnostische Raster sind dafür Hilfen und Orientierungen, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Und noch ein Hinweis sei erlaubt: Das Nachwirken der traumatischen Wunde geschieht nicht nur dann, wenn Menschen sich an das traumatische Ereignis erinnern. Der Körper, die Sinneswahrnehmungen, die Gefühle, all das, was unterhalb und um das Verstehen und das kognitive Erinnern herum den Menschen ausmacht, erinnert sich. Das gilt auch und insbesondere für kleine Kinder. Erst ab dem dritten Lebensjahr können Kinder bewusste Erinnerungen aufnehmen und speichern. Doch sie können auch Opfer oder Zeugen traumatischer Ereignisse sein, die in den ersten zwei bis drei Lebensjahren erfolgt sind. Dann haben sie in der Regel keine konkreten Bilder oder Kenntnisse über das Geschehen, aber ihr Körper, ihr Erleben weiß um den traumatischen Schrecken. Sie erstarren vielleicht bei lauten Geräuschen, werden unruhig bei Ortsveränderungen, wie zum Beispiel der kleine Deniz.

Deniz war ein Jahr alt, als er mit einen Eltern und seinen beiden Geschwistern flüchtete. Die Flucht dauerte acht Wochen. Er hatte keine Erinnerungen an diese Zeit, doch er geriet immer in Panik, wenn möglicherweise Ortsveränderungen anstanden. Schon der Besuch bei einer befreundeten Familie in einem anderen Stadtteil beunruhigte ihn, auch wenn er schon oft dort gewesen war. Wenn er merkte, dass die Eltern eine Tasche packten mit Kleidungsstücken, dann war dies ein Signal für einen möglichen Aufbruch und unbewusst sagte ihm dieses Signal, dass eine weitere Flucht bevorstehen könnte, also eine ähnliche Erfahrung wie die, die er schon als Kleinkind gemacht hatte. Und da begann er, sich zu wehren. Er rief laut, dass er nicht wegwolle, und lief davon, um sich zu verstecken. Er flüchtete vor dem Fliehen.

Solche nachhaltigen Folgen bei Kleinkindern beobachten wir oft. Für sie gilt, wie auch für ältere Kinder und Erwachsene, dass das Trauma nachwirkt, auch wenn es keine bewussten Erinnerungen an die traumatischen Situationen gibt.

[1] ICD-10 1993, Kapitel V (F), S.169f