Phänomene: Traumafolgen in der Flüchtlingshilfe

 1.  Viele traumatisierte Flüchtlinge zeigen keine Störungen, sondern ein generelles „Verstört-Sein“. Sie leiden unter Abgrund-Bildern als innere Bilder oder Traumbilder: am Abgrund stehen, in den Abgrund fallen, eine Böschung/Klippe herunterfallen, aus dem Zug, aus dem Boot fallen …

  Wir müssen Verstörtsein als Ausdruck traumatischer Verunsicherung verstehen und nicht als bösen Willen oder Ergebnis von Fremdheit. Wer Verstörendes erlebt hat, ist verstört – ganz gleich, welche Nationalität oder Religion er angehört.

2.  Wer existenziell bedroht ist und sich nicht wehren bzw. nicht fliehen kann, erstarrt häufig und verstummt. Das Erstarren und Verstummen bleibt bei vielen.

Wir müssen das akzeptieren u n d unterstützen, Wege aus dem Erstarren und Verstummen zu finden.

3.  Uniformen sind mit Leid verbunden, mit existenzieller Bedrohung. Behörden auch. Mitarbeiter/innen von Behörden können Ausdruck der Rettung sein, aber auch der Bedrohung.

Es ist notwendig, immer wieder zu erklären: Wir helfen.

4.  Ein Formular oder Stempel bedeutet in vielen Herkunftsländern Zwangsräumung des Häuser oder Einzug in die Armee bzw. Milizen. Ein Formular kann deshalb als Traumatrigger wirken.

Wir sollten soviel unsinnige Formulare streichen, wie möglich. Und den Sinn von Formularen erklären. Immer wieder. 

5.  Wenn Therapie empfohlen wird, wird von Flüchtlingen oft etwas ganz anderes als von uns verstanden. In Syrien bedeutet „Therapie“, dass Familien auseinander gerissen werden. In manchen Gegenden Schwarzafrikas, dass ein Mensch von Dämonen besessen ist, die ausgetrieben werden müssen.

Wir müssen erklären, dass Therapie Hilfe ist. Oder andere Worte wählen.

6.  Viele Geräusche, Düfte und andere Sinneseindrücke können als Trigger für die Wiederbelebung traumatischen Schreckens wirken: das Flugzeug-Geräusch, der Rettungshubschrauber, die Klebepistole, das Wasserrauschen … Dass Kinder auch Kampfspiele spielen, ist normal. Doch wenn im Krieg in der Spielecke existenziell Qualität spürbar wird und Kinder nicht aufhören können, kann das ein Hinweis auf traumatische Erfahrungen sein.

Wir sollten vor solchen Triggern schützen, wo möglich. Das wird aber nie vollständig gelingen. Entscheidend ist bei solchen Auslösern, dass wir nicht nur mit Vernunft reagieren, sondern: Wir passen auf Sie auf. Sie sind nicht allein!

7.  Die üblichen menschlichen Ängste können nach Traumaerfahrungen als eine plötzliche Angstflut hervorbrechen.

Traumatische Gewalt ist meist eine massive Beschämung, also ein Durchbrechen der Schamgrenzen. Sie kann deshalb im Einzelfall zum Verlust von Schamgrenzen, zumeist aber zu anhaltenden Schamgefühlen führen.

Die Schuldgefühle der Opfer sind Schuldgefühle ohne Schuld. Sehr häufig, sehr intensiv.

Trauergefühle fallen meist schwer. Wenn sie auftauchen, ist das ein positives Zeichen, dass die Starre sich zu lösen beginnt. Trauern ist das Gefühl des Loslassens.

Gefühle brauchen Raum. Wenn Menschen an Gefühlen leiden, brauchen sie Begegnungen mit anderen Menschen, die ihre Gefühle (mit-)teilen. Und Vorbilder.

8.  Viele Menschen deuten ihre posttraumatische Verwirrung und ihr Verstört-Sein als „Verrücktheit“: „I’m so crazy!“

Unsere Antwort sollte sein: „Sie sind nicht verrückt, Sie sind normal. Das, was Sie erlebt haben, ist nicht normal.“ 

9.  Aggressivität kann verschiedene Ursachen haben:

Wer Menschen an einem Ort zusammenpfercht und ihnen Arbeit oder sinnvolles Tun verbietet, züchtet Aggressivität.

Aggressivität kann sinnvoll sein. Aggressive Gefühlen zielen auf Veränderung ab: Was mich ärgert, das will ich verändern.

Aggressives Verhalten kann auch Ergebnis von Überfürsorge und Erziehung zu Verantwortungslosigkeit durch kostenlose Versorgungssituationen in der Entwicklungshilfe sein.

Auch unter Flüchtlingen gibt es wie bei allen Menschen Täter.

Aggressivität, die nicht auf sinnvolle Veränderungen zielt, braucht ein klares und eindeutiges STOPP. Das weitere Vorgehen bedarf der Differenzierung, aus welchen Quellen die Aggressivität entspringt.

10. Die Köpfe vieler Kinder sind voller Schrecken. Da „passt nichts hinein“. Das zeigt sich in Lernblockaden.

Es braucht Angebote, dass sich die Kinder durch kreativen Ausdruck unter traumasensibler Leitung zumindest eines Teils des Schreckens „entleeren“ können. Dann lösen sich Lernblockaden meist schnell auf.

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Udo Baer, Gabriele Frick-Baer

Flucht und Trauma
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