Spürende Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen

Viele Menschen machen die Erfahrung, dass der Klang der Stimme manchmal mehr über die Befindlichkeit derjenigen aussagt, mit denen sie zu tun haben, als der Inhalt der Worte. Auch der Blickkontakt über die Augen kann oft mehr bewirken (oder verhindern) als das gesprochene Wort. Das Konzept der Spürenden Begegnungen greift solche Erfahrungen auf, vertieft sie theoretisch und praktisch und bietet ein Instrument der Begegnung, das in vielen Bereichen sozialer, pädagogischer und therapeutischer Arbeit eingesetzt werden kann. Von der Gefährdetenhilfe bis zur Altenarbeit, vom Kindergarten bis zum Jugendzentrum oder Frauenhaus. In diesem Beitrag werden in einem ersten Teil die Grundlagen des Verständnisses Spürender Begegnungen herausgearbeitet. In folgenden Teilen werde ich genauer darauf eingehen, wie die Spürenden Begegnungen in der Arbeit mit Kindern genutzt werden können.

Das Konzept der Spürenden Begegnungen arbeitet mit den fünf grundlegenden Interaktionen zwischen Menschen:

  • schauen und gesehen werden
  • tönen und gehört werden
  • greifen und ergriffen werden
  • drücken und gedrückt werden
  • lehnen (statt abgelehnt werden)

Dies sind Interaktionen als motorisch-sinnliche Begegnungen und es sind gleichzeitig Begegnungen und Interaktionen des Erlebens.

Quellen des Konzeptes

Das Konzept der Spürenden Begegnungen beruht auf der Theorie der Primären Leibbewegungen (Baer, Frick-Baer). Mit „Leib“ wird in der Tradition der phänomenologischen Philosophie der erlebende Mensch bezeichnet (Husserl, Merleau-Ponty, Waldenfels, Schmitz, Fuchs u. a.). Es geht beim Schauen und Gesehen-Werden also nicht um die körperlich-sensorischen Fähigkeiten eines Menschen, sondern um sein Erleben. Wenn ein Kind von seiner Mutter übersehen wird oder eine Frau von ihrem Partner einen beschämenden Blick spürt, ist dies nicht durch veränderte Sehstärken der Brillen zu verändern, also nicht durch rein körperbezogene Interventionen, sondern durch eine andere Haltung, durch Begegnungen mit anderen Erlebensqualitäten.

Eine Quelle der Primären Leibbewegungen ist die phänomenologische Therapieforschung, in der nachhaltig wirksame therapeutische Interaktionen untersucht und dabei die Primären Leibbewegungen herausgearbeitet wurden (Baer, Frick-Baer). Ebenso bedeutsam ist die Säuglingsforschung (Stern, Dornes u. a.). Die genannten fünf Leibbewegungen sind die ersten Lebens- und Erlebensäußerungen von Säuglingen. Säuglinge lehnen sich in den Arm der Mutter oder anderer Betreuungspersonen. Sie schauen und beginnen die Begegnung mit der Mutter, dem Vater u. a. über die Augen. Sie drücken z. B. die Milchflasche an sich oder von sich weg. Sie drücken ihr Köpfchen beim Stillen an die Brust oder drücken sich mit dem ganzen Körper weg, etwa wenn sie die Arme der Erwachsenen als einengend erleben. Über die Kraft und Ausdrucksstärke ihrer Töne können Eltern so manches Lied singen. Säuglinge greifen schon in den ersten Tagen reflexartig nach einem hingestreckten Finger und nutzen später das Greifen, um sich in die Welt hinauszubewegen. Diese Leibbewegungen sind also auch und vor allem deshalb „primär“, weil in ihnen frühes Erleben zum Ausdruck kommt.

Schauen 

Schon bei der Geburt ist die Augenmuskulatur nahezu vollständig entwickelt; Neugeborene nehmen die Augen der Mutter wahr, ihr Blick wird oft als „offen und unverstellt“ beschrieben. Schon im Alter von acht Wochen beginnen Säuglinge von sich aus direkten Blickkontakt zur Mutter aufzunehmen, suchen den Blick. Im Alter von drei bis sechs Monaten ist die Interaktion zwischen Mutter und Kind vor allem eine visuelle, ein Tanz der Blicke. Das Kind kann in dieser Lebensphase „Bewegungen seiner Gliedmaßen sowie die Augen-Hand-Koordination erst geringfügig kontrollieren. Dagegen ist das visuell-motorische System schon nahezu ausgereift, und im Blickverhalten ist das Kind ein erstaunlich tüchtiger Interaktionspartner. Der Blickkontakt ist eine wichtige Form sozialer Kommunikation“ (Stern, 1992, S.39). In dieser Phase sollte dem Säugling die Kontrolle über den Beginn und das Ende des Blickkontaktes überlassen werden, da dies eine wichtige und notwendige Voraussetzung für die Entwicklung des Selbstempfindens des Säuglings ist.

Im späteren Leben zeigen sich im Dialog der Blicke alle Qualitäten des Erlebens. Blicke gehen ins Leere, Menschen werden übersehen. Blicke können verachten oder würdigen, beschämen oder ernst nehmen usw.

Tönen, Hören und Gehört-Werden

Säuglinge können sich von Geburt an lautstark bemerkbar machen. Ihr stimmliches Ausdrucksvermögen ist trotz fehlender verbaler Sprache äußerst differenziert und vielfältig. Es reicht vom leisen, fast unhörbaren Wimmern bis zum herzhaften Schreien. Wenn sie nicht gehört werden oder nur auf bestimmte – angenehme – Töne Reaktion erfahren, können sie in depressiver Resignation verstummen oder versuchen, sich um jeden Preis aggressiv Gehör zu verschaffen.

Viele Kinder oder Erwachsene sind verstummt, sie sind entweder generell oder partiell sehr schweigsam, nämlich immer dann, wenn es um sie selbst geht. Manche Menschen können beruflich sehr lautstark sein und sich differenziert äußern, sind aber, wenn es um sie selbst, ihre Bedürfnisse, ihre Gefühle, ihr Privates oder ihr Intimes geht, unfähig, sich zu artikulieren.

Ein Mensch kann Worte sagen wie „Ich liebe dich“, oder ein Liebeslied singen und diese Töne haben mit seinem Erleben nichts zu tun. Das Erleben bleibt stumm. Der Unterschied wird deutlich, wenn wir es damit vergleichen, wie ein Baby seinen Hunger herausschreit, mit ganzem Körper und ganzer Seele. Säuglingsforscher haben gezeigt, dass Babys die Fähigkeit, etwas anderes zu äußern als sie wollen, erst erlernen müssen.

Wenn das eigene Erleben sich nicht in Tönen ausdrücken kann, kann dies auch daran liegen, dass das persönliche Erklingen von anderen Geräuschen übertönt wird. Gehört zu werden, scheint besonders selbstverständlich zu sein, ist jedoch für viele Menschen eine Frage von existenzieller Bedeutung. Wenn das eigene Tönen ins Leere ging oder geht, wenn die Klänge und Stimmen des Erlebens keine Resonanz fanden oder finden, ist dies eine schreckliche Erfahrung mit nachhaltigen Folgen.

Zum Tönen gehört auch das Hören. Viele Kinder werden überhört. Oder, wenn sie sich äußern, werden sie übertönt, so dass ihre eigene Stimme, ihr eigenes Tönen kein Gehör finden kann. Wer überhört wird – und das über lange Zeit – hört vielleicht auf, überhaupt zu tönen, und verstummt. Oder verzichtet darauf, eigenes von sich zu geben, und tönt nur die Klänge der anderen nach. Oder schreit nur noch, um sich verzweifelt Gehör zu verschaffen …

Tönen und Gehört werden, ja „erhört“ zu werden, ist ein existenzielles Bedürfnis der Kinder, der Menschen.

Das Greifen und Be-greifen, das Ergriffen-Werden

Greifen ist auch Begreifen. Kinder begreifen die Welt. Kinder greifen nach der Mutter oder dem Vater, sie greifen nach Spielzeug, nach der Flasche, nach der Brust, nach allem, was sie interessiert. Ist das, wonach sie greifen wollen, nicht da, greifen sie ins Leere, machen Erfahrungen mit dem Nichts. Geschieht dies häufig, hören sie auf zu greifen. Sie halten ihre Greifimpulse zurück, etwa indem sie ihre Schultern chronisch anspannen, und können dann manchmal auch als Erwachsene die Arme gar nicht mehr bewusst heben oder ausstrecken. Sie empfinden ihre Hände als zu unlebendig, gelähmt oder schlaff, um mit ihnen nach etwas zu greifen.

Greifen ist folglich mehr als eine motorische Funktion. Greifen ist eine Leibbewegung. Der Säugling nimmt Kontakt mit dem Umfeld über den Blick, über Geräusche, über den Rhythmus, über Hautberührung auf, doch ist er dabei noch von anderen Menschen, von ihrem Kommen und Gehen abhängig. Er selbst ist an den Ort gefesselt und auf Zuwendung angewiesen. In der Krabbelphase beginnt sich dies zu ändern. Der Säugling kann sich in die Welt hinausbewegen. Mag seine Welt anfangs noch so klein sein, beginnt doch eine neue Qualität des Kontaktes: die Qualität des Greifens und Begreifens. Etwas sehen, Interesse haben, greifen wollen, dorthin krabbeln, zugreifen – das ist ein durchgehend fließender Prozess, in dem die Kinder etwas über ihre Umwelt lernen, Objekt für Objekt, Griff für Griff.

Über das Greifen begreift er die Welt im doppelten Sinne: der Säugling begreift die Qualitäten der Gegenstände, und er begreift gleichzeitig seine eigenen Fähigkeiten des Kontaktes. Er lernt Wirksamkeit.

Manche Kinder kennen das Greifen überwiegend daher, dass sie von anderen ange-griffen, dass sie gewaltsam ergriffen werden. Gewalterfahrungen mit Prügel oder sexuellen Übergriffen (wieder das Wort Greifen, auch in diesem schlimmen Wort) bestimmen ihr Greiferfahrungen. Manche führen diese Art des Greifens fort, andere „verzichten“ ganz auf das Greifens, weil sie nie so werden wollen wie die Täter*innen. Auch letzteres gibt den Tätern Macht, kann Kinder und Erwachsene in Opferrollen festlegen und festigen.

Greifen Kinder und Erwachsene ins Leere oder werden sie gewaltsam ergriffen, hat das nachhaltige Folgen. Sie hören auf, zu be-greifen, oder werden selbst aggressiv, greifen an.

Das Drücken oder Erdrückt-Werden

Drücken beinhaltet wie jede Leibbewegung eine motorische Ebene und eine Ebene des Erlebens. Motorisch kann man etwas mit unterschiedlicher Intensität drücken, zart, weich wie eine sanfte Berührung, aber auch fest und kraftvoll. Die Richtung des Drückens kann nach innen, gegen den eigenen Körper, oder kann nach außen gehen. Man kann etwas an sich herandrücken und etwas wegdrücken. Das Gegenteil des Wegdrückens ist das Ziehen. Das schnelle Wegdrücken wird zum Stoßen.

Wie bedeutend Drücken als grundlegende Bewegung des Erlebens ist, wird oft in der Begegnung mit Erwachsenen oder Jugendlichen deutlich. Wenn wir fragen: „Wie geht es Ihnen?“, antworten viele Menschen, dass sie sich unter Druck fühlen oder dass sie darunter leiden, dass andere Menschen Druck auf sie ausüben. Manche haben Angst, Forderungen an andere Menschen zu stellen, weil sie „keinen Druck ausüben wollen“. Wieder andere stehen unter „Hochdruck“, ohne dass der Druck nach außen dringt und gegen andere gerichtet werden kann. Drücken wird von vielen als Wegdrücken erlebt. Druck wird oft mit Gewalt gleichgesetzt.

Wenn ein Säugling gehalten wird, drückt die Mutter oder eine andere Bezugsperson den Säugling an sich. Drücken und Gehaltenwerden gehören folglich zusammen. Viele Menschen suchen Halt und Gehaltenwerden im Sinne von Geborgenheit und Sicherheit, andere erleben Gehaltenwerden als Beengung und Gewalt. Wie bei allen Leibbewegungen ist das Erleben auch des Drückens individuell, unterliegt unterschiedlichen Wahrnehmungen, Erlebnisweisen und Bewertungen.

Oft beobachten wir Kinder „unter Druck“. Dies ist die Atmosphäre, die sie ausstrahlen, und das zeigt sich oft auch in der Körperspannung. Hier hat sich aus dem Prozess des Drückens der Zustand des Drucks verfestigt, ist in ihnen gleichsam kristallisiert. Durch Übungen und Erfahrungen des Drückens und Ziehens kann aus einem erstarrten Zustand wieder ein Prozess werden.

Hintergrund sind oft Erfahrungen, das Kinder „erdrückt“ wurden. Durch massive Forderungen oder Doppelbotschaften, durch die Wirkung seelischer Erkrankungen auf die Kinder, durch Trennungskriege, durch Gewalt, durch Flucht und Fluchttraumata, durch vieles andere mehr. Solcher Druck hat oft keine Worte. Doch er ist spürbar und wahrnehmbar.

Lehnen 

In der Intensität, mit der Säuglinge sich normalerweise anlehnen können, wie sie alle Muskelgruppen entspannen und lösen und sich z. B. in den Arm der Mutter schmiegen, können dies Erwachsene später kaum noch. Das Lehnen ist die früheste Form des Körperkontaktes, intim und innig. Vielen Erwachsenen ist diese primäre Leibbewegung verloren gegangen, vielen ist sie fremd und gleichzeitig sehnen sie sich danach.

Was viele Menschen eher als das Lehnen kennen, ist das Abgelehnt-Werden. Wer früh und andauernd abgelehnt wurde, kommt vielleicht zu der Überzeugung, nicht nur etwas falsch zu machen, sondern falsch zu sein. Wer sich an einem vertrauten Menschen anlehnen wollte und dabei ins Leere fiel, wird misstrauisch werden und sich vielleicht nie mehr trauen, sich an andere Menschen anzulehnen.

Kinder suchen, sich anzulehnen. Wer sich nicht anlehnen kann, wie soll er Halt finden, wie soll er lernen zu vertrauen? Die Sehnsucht, sich anlehnen zu können, ist bei Kindern groß.

Spürende Begegnungen und Bindungsförderung

„Für die seelische Gesundheit des sich entwickelnden Kindes ist kontinuierliche und feinfühlige Fürsorge von herausragender Bedeutung. Es besteht eine biologische Notwendigkeit, mindestens eine Bindung aufzubauen, deren Funktion es ist, Sicherheit zu geben und gegen Stress zu schützen. Eine Bindung wird zu einer erwachsenen Person aufgebaut, die als stärker und weiser empfunden wird, so dass sie Schutz und Versorgung gewährleisten kann“ (Grossmann, Grossmann 2006, S. 67). Diese Person ist für den Säugling in der Regel die Mutter, ihre Funktion kann ersatzweise auch von anderen Menschen eingenommen werden (Großmutter, Vater, ältere Schwester, Kinderfrau etc.). Ein Kind braucht auch Bindungen mit gleicher Funktion zu anderen Personen außer zur Mutter, mit hierarchisch abnehmender Bedeutung.

Es ist bekannt, dass Bindungsstörungen zumeist im frühen Alter entstehen und langfristige Folgen haben (Bowlby, Grossmann, Süess u. a.). Die Folgen der Bindungsstörungen reichen von verstörtem und verstörendem Verhalten bis zu Rückzug oder Gewalttätigkeit.

Doch wie misslingt Bindung konkret? Oder anders: Was brauchen Kinder, damit sie sichere Bindungserfahrungen machen? Die Antworten der Säuglingsforschung sind eindeutig: Kinder brauchen im frühen Alter Begegnungen des Schauens, Tönens, Greifens, Drückens und Lehnen, die sie würdigen und einen spürenden Dialog ermöglichen. Das Konzept der Spürenden Begegnungen greift dies auf und ermöglicht älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Bindungsstörungen neue Bindungserfahrungen zu machen. Daraus können Bindungsstörungen gelindert und oft neue Fähigkeiten des Bindungsverhaltens entwickelt werden.

Einige Hinweise und Zitate aus der Literatur zur Bindungsforschung:

  • Ainsworth nennt bei Säuglingen v.a. „mütterliche Feinfühligkeit“: Der Säugling ist „im Blick“, sie versteht dessen Signale und antwortet angemessen auf sie.
  • Unvermittelte Trennungen werden vermieden, es gibt Übergänge, wenn Trennungen notwendig sind (Grossmann). Und: Trauern ist erlaubt.
  • Mütter beziehen sich auf Gefühle der Kinder und versuchen bei negativ erlebten Gefühlen nicht, die Gefühle zu ändern, sondern die Bedingungen, die diese Gefühle hervorgerufen haben (Bowlby).
  • Das Kind kann Nähe und Distanz selbst bestimmen (Ainsworth) und darf eigene Erfahrungen machen – natürlich im vorgegebenen Rahmen.
  • Von Seiten der Väter scheint v.a. die Fähigkeit wichtig, mit den Kindern zu spielen, zu spielen, zu spielen, und ihre Hilfestellung für Heranwachsende bei der Bewältigung von Herausforderungen (Grossmann).
  • Prof. Suess fasste das wichtigste Ergebnis der Längsschnittuntersuchungen auf einem Vortrag zusammen: „Der wichtigste positive Faktor für eine Eltern-Kind-Beziehung und damit Entwicklung der Bindungsfähigkeit besteht darin, gemeinsam Freude und Spaß zu haben beim gemeinsamen Tun.“
  • Berührungen, Hören und Schauen werden immer wieder erwähnt. „Bindung wird vermittelt durch Sehen, Hören und Halten.“ (Holmes, S.87)
  • Die Erfahrung von Wirksamkeit und damit von Wichtigkeit (Suess).

Indikation: Wirkungslosigkeit

Quellen eines unsicheren bzw. desorganisierten Bindungsverhaltens sind soziale Erfahrungen, die Säuglinge und Kleinkinder mit nahestehenden Bezugspersonen machen. Insbesondere wenn Kinder Erfahrungen der Leere machen, hat das nachhaltige Folgen. Diese sind zu wenig bekannt und werden zu wenig beachtet. Es geht darum, dass Kinder in Leere greifen, schauen, tönen, dass sie keinen Trost und keine Unterstützung finden und dass sie mit Verlusten allein gelassen wurde.

Treten solche Leereerfahrungen wiederholt auf, entwickelt sich bei vielen Kindern und Erwachsenen ein Gefühl der Wirkungslosigkeit: „Es ist egal, was ich tue, ich gehe sowieso ins Leere.“ Manche ziehen sich zurück und verlieren Motivation und Engagement. Andere versuchen unbewusst, Wirksamkeit zu erzwingen, indem sie aggressiv werden in unterschiedlichen Formen. Andere versuchen, ihr Leere-Erleben mit Alkohol oder Drogen zu bekämpfen.

In Mitarbeiter*innen der pädagogischen und sozialen sowie Gesundheitsberufe entsteht oft eine Resonanz im Kontakt mit Menschen mit Leere-Erfahrungen, die zu Bemühungen führt, deren Leere zu füllen. Das ist zumeist wirkungslos, die Wirkungslosigkeit überträgt sich auf die Helfer*innen.

Die Antwort ist nicht das Füllen dieser Leere, sondern Wirksamkeit. Da Leere-Erfahrungen immer soziale Erfahrungen auch und oft v. a. des Schauens, Tönens, Greifens, Drückens und Lehnens sind, brauchen diese Menschen neue Erfahrungen der Spürenden Begegnungen. Dies kann die früheren Verletzungen nicht ungeschehen machen, ermöglicht aber neue Erfahrungen der Wirksamkeit.

Unerreichbar scheinende Menschen

Neben Menschen mit Bindungsstörungen und Menschen mit Wirkungslosigkeit-Erfahrungen können v. a. Menschen von den Spürenden Begegnungen profitieren, die unerreichbar scheinen. Das können alte Menschen mit Demenz sein oder Menschen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen oder andere, die mit den „normalen“ Methoden nicht oder kaum zu erreichen sind. Dazu zählen Kinder und Jugendliche, die sich als Schutz vor anhaltenden Verletzungen aus der Welt zurückgezogen haben und für andere nicht mehr erreichbar scheinen, zumindest nicht mit Worten. Kinder wollen und müssen gesehen und angeschaut werden und das beinhaltet für sie die Botschaft: Ich bin es wert, beachtet zu werden. Wir kennen in der Umgangssprache die Bezeichnung „über etwas oder jemanden hinwegsehen“.

Manchmal fügen sich in Kindern und Jugendlichen Bindungsstörungen z. B. mit sekundären Leere-Erfahrungen nach Traumata zusammen und sie entwickeln als Schutz verstörende Störungen in einer Kombination aus Alkohol, Unansprechbarkeit und Aggressivität. Traumatisierte Kinder und Jugendliche sehnen sich nach der haltenden Berührung einer Hand – und haben gleichzeitig panische Angst vor einer Berührung, da sie Erfahrungen gewaltsamer Übergriffe gemacht haben und deshalb keine Griffe, kein Greifen ertragen.

Solche intensiven Verletzungs-Erfahrungen Primärer Leibbewegungen können nicht einfach mit Worten hinweggeredet werden. Die leidenden Menschen brauchen neue Erfahrungen, die an die Stelle der verletzenden treten können und zumindest deren Macht abschwächen. Dies kann in therapeutischen Settings mit dem leibtherapeutischen Konzept der Primären Leibbewegungen geboten werden und ebenso in der pädagogischen, sozialen und Gesundheitsarbeit – mit dem Konzept der Spürenden Begegnungen.

Was bieten Spürende Begegnungen?

Spürende Begegnungen bedürfen für ihre Nutzung in der praktischen Arbeit eines theoretischen Verständnisses über Hintergrund, Kontext und Bedeutung, wie er hier grob skizziert wurde. Für den praktischen Einsatz müssen sie „leibhaftig“ erfahren und praktisch geübt werden.

Dies vorausgeschickt können Spürende Begegnungen Folgendes bieten:

Ein tieferes Verständnis für verstörende und störende Symptome des Verhaltens von Kindern und Erwachsenen.

Insbesondere werden manche Verhaltensweisen nicht nur als pathologische „Störungen“ klassifiziert, sondern auch als Versuche, die frühen Mangelerfahrungen spürender Begegnungen zu kompensieren. Ein Pflegekind zum Beispiel hatte die Angewohnheit, bei Tisch alle Gegenstände, eigene wie fremde, anzufassen, bevor es beginnen konnte, etwas zu essen. Bestrafungen und Ermahnungen halfen nichts. Das Verständnis, dass das Kind wahrscheinlich oft und lange ins Leere gegriffen hatte, führte zu einem Bewertungswechsel: Das Kind versucht durch das Greifen sich seiner Umwelt zu vergewissern. Durch das Angebot anderer Greif-Erfahrungen aus dem Repertoire der Spürenden Begegnungen wurde sein Gefühl der Wirksamkeit und Ver-Bindung gestärkt, so dass das Greifverhalten bei den Mahlzeiten allmählich seine Bedeutung verlor und schließlich verschwand.

Ein breites Repertoire an neuen Erfahrungen spürender Begegnungen. Vielfältige Begegnungsmöglichkeiten werden der Praxis zur Verfügung gestellt. Diese erstrecken sich auf besondere Förderangebote und auf Interaktionen, die unmittelbar in den Alltag integriert werden können.

Dabei ist es wichtig, dass oft alte Erfahrungen nicht einfach durch neue ersetzt werden können. Viele Jugendliche mit Essstörungen zum Beispiel sehnen sich nach anerkennenden Blicken anderer und versuchen dies durch den Kampf gegen den eigenen Körper zu erreichen. Übungen des Blickkontaktes sind für sie unmöglich, so sehr fürchten sie meist den beschämenden oder abwertenden Blick. Dann gilt es, Zwischenformen einzusetzen, zum Beispiel den Bau von Fächern, mit denen man seine Augen verstecken und über die hinweg man auch gelegentlich einen Blick „riskieren“ kann.

Eine Interaktionsmöglichkeit, die Umwege und Auswege offen lässt. Menschen die beispielsweise schlimme Erfahrungen mit dem Tönen und Hören gemacht haben, können oft nicht als erstes in diesem Feld der Spürenden Begegnungen neue Erfahrungen machen, da es zu angstbesetzt ist. Dann helfen Angebote zum Spiel über das Schauen oder Greifen. Die fünf Spürenden Begegnungen sind ein Gesamtrepertoire, das Begegnungen des Erlebens ermöglicht. Umwege sind oft Auswege, um Barrieren und Ängste zu vermeiden und Blockaden so zu umgehen, dass die Erfahrungen und Sehnsüchte der Menschen, mit denen wir arbeiten, gewürdigt werden.

Spürende Begegnungen sind nicht nur ein Angebot für Kinder und Jugendliche mit den beschriebenen Leiden. Jeder Mensch, auch jede Fachkraft, hat Erfahrungen mit den Primären Leibbewegungen gemacht. Manche mögen einem bewusst sein, viele wahrscheinlich unbewusst. Mit den Spürenden Begegnungen machen die Fachkräfte auch neue Erfahrungen, die nicht nur mehr Wirksamkeit und Erfolg in der Arbeit bringen, sondern oft auch helfen, die persönliche Balance zu verbessern, so dass Arbeitskraft und Arbeitsfreude gestärkt werden.

 

 

Literatur:

Baer, Udo (2005): Neurowissenschaften, Säuglingsforschung und Therapie. Neukirchen-Vluyn
Baer, Udo (2013): Familientherapie humanistisch – leiborientiert – kreativ. Semnos, Neukirchen-Vluyn
Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2001): Leibbewegungen, Herzkreise und der Tanz der Würde. Methoden und
Modell der Tanz- und Bewegungstherapie. Neukirchen-Vluyn

Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2008): Wie Kinder fühlen. Weinheim
Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2009): Würde und Eigensinn. Beltz, Weinheim und Basel
Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2010): Wie Traumata in die nächste Generation wirken. Neukirchen-Vluyn

Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2012): Das Wunder der Geborgenheit. Beltz, Weinheim und
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Dornes, Martin (1993): Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen.
Frankfurt am Main

Dornes, Martin 1997): Die frühe Kindheit. Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre.
Frankfurt am Main

Dornes, Martin (2000): Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt am Main
Frick-Baer, Gabriele (2009): Aufrichten in Würde. Neukirchen-Vluyn
Frick-Baer, Gabriele (2013): Trauma – „Am schlimmsten ist das Allein sein danach“; Sexuelle Gewalt – wie die Zeit danach erlebt wird und was beim Heilen hilft. Semnos, Neukirchen-Vluyn

Fuchs, Thomas (2000): Leib-Raum-Person. Entwurf einer Phänomenologischen Anthropologie. Stuttgart

Fuchs, Thomas (2000): Psychopathologie von Leib und Raum. Phänomenologisch-empirische Untersuchungen
zu depressiven und paranoiden Erkrankungen. Darmstadt

Grossmann, Karin; Grossmann, Klaus. E. (Dritte Auflage, 2006): Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart

Holmes, Jeremy (2002): John Bowlby und die Bindungstheorie. München

Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin

Stern, Daniel (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart

Stern, Daniel (2000): Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Stuttgart

Spangler, Gottfried; Zimmermann, Peter (1999): Die Bindungstheorie. Stuttgart

Waldenfels, Bernhard (1992/2001): Einführung in die Phänomenologie. München

Waldenfels, Bernhard (2000): Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt