Entwürdigendes und unberechenbares Verhalten durch erwachsene Bindungspersonen verunsichert und verwirrt Kinder. Sie können sich nicht auf eine sichere Basis verlassen und zeigen die damit verbundene Not oft ohne Worte.
Stefan ist vier. Bei jedem noch so kleinen Stress schlägt er, oft wahllos, manchmal auch anscheinend gezielt. Ohne Erklärung, ohne Ankündigung, ohne Entschuldigung. Er sucht Nähe – und wenn er sie erhält, schlägt er.
Lisa ist drei und spielt nicht. Wenn andere Kinder spielen oder wenn ihr Spielangebote gemacht werden, sitzt sie nur stumm und mit großen, fragenden Augen da, als würde sie nicht verstehen, was man von ihr wolle. Wenn man sie in den Arm nehmen möchte, kratzt sie oder lässt es unbeteiligt und ohne jede Reaktion mit sich geschehen, als wäre sie eine Puppe.
Beide Kinder haben eine Bindungsstörung. Ihnen fehlt das Grundvertrauen, auf dessen Grundlage sich Nähe und Distanz zu anderen Kindern und Erwachsenen regulieren lässt, auf dessen Boden sie Ja oder Nein sagen und unterschiedliche Gefühle zeigen können. Mit dieser Bindungsstörung sind sie nicht geboren, sie haben sie erworben. Stefan lebt allein mit seiner Mutter, die depressiv ist und vermutlich tablettenabhängig. Lisas Vater ist Alkoholiker, in der Familie wird Gewalttätigkeit vermutet, das Jugendamt ist eingeschaltet.
Was tun?
Wir reden in der Kreativen Kinder- und Jugendlichentherapie gern von der Weisheit der Kinder. Sie zeigen uns oft, wie es ihnen geht, und das ohne Worte. Sie rufen in uns Betreuenden und Erziehenden manchmal die Gefühle hervor, die sie selber haben, aber nicht in Worten äußern können. Stefans und Lisas Handeln entspringt aus der not und sie versuchen unbewusst, uns zu zeigen, was in ihnen vorgeht.
Alle Kinder brauchen Halt: feste Rahmenbedingungen, sich kümmernde Gegenüber, Sicherheit, Menschen, denen sie vertrauen können. Diesen Halt hatten und haben Stefan und Lisa nicht oder zu wenig.
Alle Kinder brauchen stabile Beziehungserfahrungen. Sie brauchen andere Menschen, die sie nähren (körperlich, aber auch geistig und emotional), sonst verkümmern sie. Sie brauchen andere Menschen, die ihnen wohlwollende Rückmeldungen geben, die sie spiegeln, sonst wissen sie nicht, wer sie sind. Kinder brauchen würdigende Gegenüber, die ihnen Grenzen setzen, ihnen widersprechen, sich mit ihnen streiten – aber in Würde und Respekt, ohne sie zu verletzen oder ins Leere gehen zu lassen. Stefan und Lisa sind unterernährt und ungespiegelt, sie haben Leere und Grenzverletzungen erfahren.
Alle Kinder brauchen Spielräume. Wenn Kinder Spielräume haben, dann entdecken und begreifen sie spielerisch die Welt. Stefan und Lisa haben offenbar erfahren, dass es für sie diese Spielräume nicht gibt oder dass es gefährlich ist, wenn sie zu spielen anfangen, dass dann Schlimmes passiert. Viele Kinder in einer Kindertagesstätte verfügen über diese drei Grundelemente kindlicher Entwicklung. Die Angebote in einer Kita bauen darauf auf und entwickeln diese Grundelemente weiter. Die Kita bietet Halt und stabile Beziehungserfahrungen und sie ist ein einziger großer Spielraum, der in sich viele kleine und immer wieder neue Spielräume enthält. Dass dabei Probleme auftauchen, ist normal und verkraftbar. Doch Kinder wie Lisa und Stefan bringen nicht die grundlegenden Bindungserfahrungen mit und fallen deshalb aus dem Rahmen. Sie können das, was die Kindertagesstätte bietet, nicht nutzen und sind überfordert.
Die Bindungsforscher können voraussagen, dass die Mehrheit der Kinder mit solch massiven Bindungsstörungen wie Stefan und Lisa später als Jugendliche und Erwachsene mit dem Gesetz in Konflikt kommen werden, zu Alkoholismus neigen bzw. für psychische Erkrankungen anfällig sein werden sowie große Probleme haben werden, stabile Beziehungen einzugehen.
Die spannende Frage ist: Was ist mit denen, die diesen Weg trotz Bindungsstörung nicht gegangen sind? Was ist mit den Kindern, die sie überwunden haben? Was haben Sie bekommen?
Drei Antworten auf diese Fragen gibt es:
Die erste Antwort lautet: Eine Bindung reicht. Viele Kinder können frühe Bindungsstörungen überwinden, wenn sie in ihrer Kindheit und Jugend eine stabile Bindungserfahrung machen können. Das muss nicht die Mutter oder der Vater sein. Auch die Oma ist eine „Kandidatin“ oder eine Person außerhalb der Familie, ein/e Erzieher/in oder ein/e Lehrer/in. Wichtig ist, dass diese Person das Kind mag und respektiert, dass sie Vetrauen schenkt und vertrauenswürdig und verlässlich ist.
Die zweite Antwort: Kinder brauchen Gefühle. Gefühle regeln die Beziehungen des Kindes zur Welt. Wenn ein Kind keine oder nicht einzuordnende Gefühlsregungen erfährt, findet es sich nicht zurecht in der Welt. Stefans Mutter ist schwer depressiv. In ihrer Krankheit ist das Gefühl der Gefühllosigkeit bestimmend. Stefan kennt keine differenzierten Gefühlsausdrücke und geht mit seinen Gefühlen bei seiner Mutter ins Leere. Lisa kennt Gefühle nur einseitig und so, dass sie sie nicht versteht.
Die Konsequenz ist: Stefan und Lisa sollten so vielfältige Gefühlserfahrungen machen wie möglich. Es ist wichtig, dass sie die Gefühle der Mitarbeiter/innen mitbekommen, dass sie mitunter die Erfahrung machen, dass jemand im Umgang mit ihnen hilflos und enttäuscht ist, sich deswegen aber nicht zurückzieht oder sie schlägt, sondern sich weiter um sie bemüht. Gefühlsäußerungen von Stefan oder Lisa sollten aufgegriffen, „erlaubt“ und bestätigt werden. Sehr bereichernd und sehr erfolgreich ist es, Gefühle zu musizieren oder zu malen. Stefans Wut kann leise und grün sein, Lisas Trauer blau und wie eine nervende Rassel klingen. Kinder wissen, wie das klingt oder aussieht, was in ihnen ist. Sie brauchen keine Vorgaben, sondern Ermutigung.
Die dritte Antwort: Tönen, Schauen, Greifen, Drücken, Lehnen. In der kreativen Kinder- und Jugendlichentherapie sagen wir dazu „Primäre Leibbewegungen“. Deren Bedeutung geht aber weit über die Therapie hinaus, Es geht hier um körperliche Aktivitäten, aber gleichzeitig auch um Bewegungen des Erlebens, die grundlegend dafür sind, wie Säuglinge mit der Welt Kontakt aufnehmen und sich Ältere in der Welt bewegen.
Das Schauen und Angeschaut-Werden wird von Säuglingsforschern als „Tanz“ bezeichnet – im Tanz der Augen geht zwischen Säugling und Mutter (oder Vater) unglaublich viel hin und her, nicht nur die Blicke begegnen sich, auch die Seelen.
Auch das Tönen und Hören ist nicht nur ein motorischer Vorgang – wenn wir Menschen nicht erhört werden, können wir verstummen; wenn unsere Stimme kein Gehör findet, ändert sich unser Gestimmtsein.
Das Greifen ist nicht nur eine Bewegung der Hände (oder des Mundes und der Füße), greifend entdecken wir die Welt, ohne Greifen kein Be-Greifen.
Wenn Kinder gedrückt werden, spüren sie Wärme und Halt; wenn sie er-drückt werden, Not und Enge. Wenn Kinder gegen andere drücken dürfen, spüren sie Reibung und ihre eigene Kraft und Identität.
Lehnen ist Vertrauen und Hingabe. Wem das Vertrauen ausgetrieben wurde, der kann sich nicht anlehnen. Dies wieder zu lernen, führt über den Weg, durch das Misstrauen hindurch neues Vertrauen aufzubauen.
Die Konsequenz muss sein, dass Kinder wie Stefan und Lisa das Schauen und Tönen, das Greifen, Drücken und Lehnen neu erfahren und spielerisch üben, in Alltag und Spiel. Das ist schwierig, weil diejenigen, die sich darum bemühen, zuerst einmal kindliche Unkenntnis, Fremdheit und Abwehr als Misstrauen entgegenschlagen wird. Doch dieser Weg lohnt sich. Mit drei oder vier Jahren können Kinder leichter neue Erfahrungen, auch Bindungserfahrungen, in ihre Identität integrieren als mit 13 oder 14.