„Aufmerksamkeitsdefizit“ als Schutz

Ein besonderes Kennzeichen der meisten Kinder, die unter ADHS oder ADS leiden, besteht darin, dass sie in ihren Sinneswahrnehmungen über sehr wenige Filter verfügen, sehr durchlässig und „dünnhäutig“ sind.

Wir Menschen nehmen in jeder Sekunde unglaublich viele Signale wahr. Das Gehirn muss filtern, weil wir sonst überflutet werden. Nur ein kleiner Promillesatz dessen, was wir wahrnehmen könnten, darf und kann das Gehirn erreichen. Sonst entsteht ein Rauschen und die Menschen können nicht mehr zwischen den verschiedenen Wahrnehmungssignalen differenzieren. Genau das passiert bei vielen Kindern, die unter dem sogenannten „Aufmerksamkeitsdefizit“ leiden.

Sie kennen es vielleicht auch. Wenn Sie übermüdet sind und gleichzeitig viele Menschen, Mails, Anrufe und sonstige Informationen oder Signale auf Sie einströmen: Es wird alles zu viel. Sie können nicht mehr zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Vorrangigem und Belanglosem unterscheiden. Alles rauscht. So beschreiben viele Kinder mit dem sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit ihre Wahrnehmung. Dieses Rauschen quält sie und kann zu Aggressivität und Unruhe führen. Es kann aber auch in völligem Rückzug münden. Sie versuchen, sich innerlich zu verschließen, manchmal auch mit äußeren Hilfsmitteln wie Kopfhörern, Weglaufen und ähnlichem. Dann entsteht das Defizit an Aufmerksamkeit. Doch der eigentliche Kern ist das Übermaß an Aufmerksamkeit, das Überflutet-Werden. Das Defizit an Aufmerksamkeit ist im Wesentlichen ein Schutz, eine Nothilfereaktion auf das, was zu viel ist.

So ist auch zu erklären, dass manche Kinder mit diesem Aufmerksamkeitsdefizit in bestimmten Bereichen extrem aufmerksam sind und extrem viel Wissen akkumulieren. Ein Kind, das in der Schule kaum etwas mitbekommt, kann alle Pokemon-Figuren und deren Werte auswendig kennen. Andere sind Experten für eine bestimmte Fußballmannschaft und können die Aufstellungen für jedes Spiel in den letzten fünf Jahren auswendig daher sagen. Diese partielle Aufmerksamkeit ist nur so zu erklären, dass es kein generelles Aufmerksamkeitsdefizit gibt, sondern dass dies ein Schutz ist.