Auf die vielen Fragen von Eltern und anderen Erziehern, wie sie mit Wut, Zorn und anderen aggressiven Handlungen von Kindern und Jugendlichen umgehen sollen, gibt es keine eindeutigen Antworten. Zunächst ist wichtig, den Hintergrund des aggressiven Verhaltens zu suchen und zu erkennen. Darauf werde ich in mehreren Beiträgen eingehen.
Die neunjährige Lea musste eine dicke Brille tragen und schielte. Von ihren Mitschülerinnen und vor allen Mitschülern wurde sie oft als „Brillenschlange“ gehänselt. Sie schämte sich, dass sie so war, wie sie war. Ihre Eltern lebten getrennt, mit beiden kam sie einigermaßen gut klar. Aber über ihre Erfahrungen, beschämt und ausgelacht zu werden, redete sie mit ihnen nicht, da stand die Scham dazwischen. All das verunsicherte sie. Sie selbst fand sich hässlich und „falsch“. Von ihren Eltern bekam sie wenig positive Rückmeldungen. Sich Rückmeldungen zu geben, war in dieser Familie nicht üblich. Manchmal unternahm sie Anstrengungen, sich beim Lernen zu konzentrieren, wurde dafür auch von Lehrerinnen und Lehrern gelobt, aber das hielt sie nie lange durch und dann landete sie wieder, wie sie sagte „im Keller“.
Sie kam zu mir in die Beratung über eine Lehrerin, die sie mochte. Der Anlass war, dass sie begann, andere Kinder zu schubsen und manchmal auch zu schlagen. Aus ihrer Sicht waren das Notwehr und Selbstverteidigung. Es machte deshalb subjektiv Sinn. Doch die Quelle dieses aggressiven Handelns bestand nicht in ihrem Wunsch aggressiv zu sein, sondern in ihrem mangelndem Selbstwertgefühl, das immer wieder erniedrigt wurde durch Beschämungen. Erst als sie darüber reden – und auch weinen – konnte und Trost empfing, konnte sich an der Situation etwas ändern.
Bei anderen Kindern oder Jugendlichen können sich solche oder ähnliche Erfahrungen zu einem dauerhaft aggressiven Verhalten verfestigen. Sie entwickeln dann eine grundlegende Aggressivität, weil das für sie der einzige Weg aus ihrer Not und aufzurichtenist. Subjektiv gesehen, besteht ihre einzige Möglichkeit sich zu erhöhen darin, dass sie andere erniedrigen. Oft haben solche Kinder und Jugendlichen selber auch Gewalterfahrungen erlebt. Die biografischen Erfahrungen sind unterschiedlich. Das extrem geringe Selbstwertgefühl ist das, was sie verbindet.
In der Unterstützung solcher Kinder gilt es insbesondere, am Selbstwertgefühl anzusetzen, um den aggressiven Handlungen und Äußerungen die Quelle abzugraben. Oft brauchen diese Kinder vor allen Zweierlei. Sie brauchen Spiegelungen, Rückmeldungen, wie sie sind. Durchaus nicht nur positive Rückmeldungen, aber wahrhaftige Spiegelungen, dass sie gesehen werden und dass sie Rückmeldung bekommen, wie andere Menschen sie wahrnehmen. Zweitens brauchen sie Solidarität gegen Beschämungen und Erniedrigungen durch andere. Und drittens brauchen sie Erfahrungen der Wirksamkeit, Erfahrungen, dass sie etwas bewirken können in der Schule, im Spiel, in der Kita, im Lernen, im Haushalt, wo auch immer. Das Erfolgserlebnis, ein paar Plätzchen zu Weihnachten zu backen, ist wichtiger als gutes Zureden. Wer einmal gesehen hat, wie Kinder strahlen und sich innerlich und äußerlich aufrichten, wenn sie es zum ersten Mal geschafft haben, ein paar Meter auf ihrem Fahrrad zu fahren, wird wissen, dass solche Erfahrungen entscheidend sind für die Entwicklung eines Selbstbewusstseins, dass die Erniedrigung und Aggressivität gegen andere nicht mehr nötig hat.
von Udo Baer