Auf die vielen Fragen von Eltern und anderen Erziehern, wie sie mit Wut, Zorn und anderen aggressiven Handlungen von Kindern und Jugendlichen umgehen sollen, gibt es keine eindeutigen Antworten. Zunächst ist wichtig, den Hintergrund des aggressiven Verhaltens zu suchen und zu erkennen. Darauf werde ich in mehreren Beiträgen eingehen.
Alicia bekam öfter Wutanfälle. Früher war das nicht so, aber seit einigen Wochen. Sie war sieben Jahre alt und begann öfter „aus heiterem Himmel“, wie die Mutter erzählte, Tobsuchtsanfälle zu bekommen. Sie konnte sich dann kaum beruhigen und verstand sich selber nicht, konnte das auch nicht erklären. Auf meine Frage, was denn in der Zeit geschehen sei, bevor diese Wutausbrüche begannen, fiel nach langem Überlegen und Nachfrage der Mutter ein, dass Alicias Großmutter gestorben war. Die Mutter meinte: „Wir haben versucht, das von ihr fernzuhalten, um sie nicht zu belasten.“ Sie sei deshalb auch nicht bei der Beerdigung dabei gewesen, „damit das für Alicia nicht zu viel wird“. Im Kontakt mit Alicia hörte ich, dass Alicia die Großmutter tief und innig geliebt hatte. Sie war eine sehr warmherzige Frau, die an einem Herzinfarkt gestorben war, ganz überraschend. Es gab für Alicia keine Gelegenheit, Abschied zu nehmen, weder vorher, weil der Tod so plötzlich eintrat, und auch nicht danach, weil die Eltern ihr – gut gemeint – den Umgang mit der Trauer „ersparen“ wollten. Also blieb Alicia mit ihrer Trauer allein. Sie konnte sie nicht teilen.
Ein Gefühl, das nicht gelebt und nicht geteilt werden kann, kann oft unbewusst „umgetauscht“ werden in ein anderes Gefühl, wie bei Alicia in die Wut, in die aggressiven Anfälle. Dieser Prozess, diese Möglichkeit gibt es nicht nur bei Kindern, auch bei Erwachsenen jeden Alters. Wir Menschen brauchen es, Gefühle zu teilen, sie mitteilen zu können und verstanden zu werden. Wenn dies nicht gelingt, können sich die Gefühle in andere Gefühle verwandeln und, wie hier, in Wutausbrüchen äußern. Dies ist eine häufige Quelle von aggressiven Verhaltensweisen. Auch Angst und Hilflosigkeit, die nicht gezeigt und geteilt werden können, können in Aggressivität umschlagen. Es lohnt sich deshalb immer dann, wenn ein Anlass oder eine andere Quelle von Aggressivität nicht zu entdecken ist, auch nach anderen Gefühlen Ausschau zu halten, die vielleicht nicht oder zu wenig gelebt werden können.
Alicia brauchte, dass ihre Trauer gesehen wird, dass sie sie zeigen konnte und dass andere mit ihr trauerten. Die Mutter stellte in Alicias Zimmer ein Bild der Großmutter auf. Sie gingen zum Friedhof und Alicia schrieb einen Liebesbrief an die Großmutter, den sie mit ihren Eltern gemeinsam im Garten verbrannte und den Rauch in den Himmel zur Großmutter schickte.
Udo Baer