Quellen der Aggressivität: Erfahrungen der Leere

Auf die vielen Fragen von Eltern und anderen Erziehern, wie sie mit Wut, Zorn und anderen aggressiven Handlungen von Kindern und Jugendlichen umgehen sollen, gibt es keine eindeutigen Antworten. Zunächst ist wichtig, den Hintergrund des aggressiven Verhaltens zu suchen und zu erkennen. Darauf werde ich in mehreren Beiträgen eingehen.

Wenn wir Menschen, zum Beispiel nach einer intensiven Arbeitswoche, in das Wochenende gehen, sehnen wir uns oft nach einem positiven Gefühl der Leere. Wir wollen keine Mails, keine Anrufe, keine sonstigen Impulse mehr, sondern uns frei machen von all dem, was in den Tagen zuvor auf uns eingestürmt ist. Um eine solche Leere geht es hier nicht, sondern es geht um eine Leere, die Leid verursacht und als negativ empfunden wird. Die 13-jährige Susan erzählte: „Niemand hört mir zu. Es ist zu Hause so, als wäre ich gar nicht da. Wenn ich mir Sorgen mache, weil meine Mutter krank ist und meine kleine Schwester, dann kann ich mit niemandem darüber reden. Der Papa ist nur mit der kleinen Schwester beschäftigt und die Mama mit sich. Meine beste Freundin ist verknallt und hat keine Aufmerksamkeit mehr für mich übrig. Mit den Lehrern kann man sowieso nicht reden. Die Oma, mit der das noch lange ging, ist weit weg und ich kann sie wegen Corona jetzt schon eine Weile nicht besuchen. Ich will sie ja auch nicht gefährden.“

Wenn Menschen ins Leere gehen, tut das weh. Wer die Hand ausstreckt und greift ins Leere, wer sich anlehnen möchte, aber da ist niemand, wer etwas von sich mitteilt und wird nicht gehört oder übertönt, wessen Blick nicht erwidert wird – der oder die fühlt sich, als wäre sie als Person es nicht wert, gesehen, gehört und unterstützt zu werden. Wenn so etwas gelegentlich mal passiert, dann können Kinder und Jugendliche das verarbeiten, aber wenn sich das häuft oder gar zu einem Dauerzustand wird, dann ist das für viele Kinder und Jugendliche nicht aushaltbar. Sie verzweifeln dann an sich und der Welt und explodieren in Wutattacken.

Auch Susan begann die ganze Welt zu hassen und vor allem sich selber. Sie wusste nicht wohin mit ihrer Aggressivität und bekam scheinbar unmotivierte Zornesausbrüche. Die Quelle dieser Ausbrüche brauchte keine konkreten Anlässe. Sie bestand in den wiederholten Erfahrungen von Leere. In der Schule und im Elternhaus versuchten die Erwachsenen nach den Wutausbrüchen mit Susan zu reden und forderten sie auf, in dieser oder jener Hinsicht ihre Wutausbrüche durch anderes Verhalten zu ersetzen. Doch das gelang nicht, denn Susan verstand ja ihre Aggressivität selbst auch nicht. Es drohte, dass Susan die Schule verlassen sollte. Der überforderte Vater und die Schulsozialarbeiterin vermittelten eine therapeutische Behandlung.

Hier fand Susan zum ersten Mal seit langem Gehör. Hier fühlte sie sich wirksam, weil sie nicht ins Leere ging, sondern in der Therapeutin jemanden fand, der sie ernst nahm und auf sie reagierte. Damit war der Anfang gemacht, die Quelle ihrer Ausbrüche trockenzulegen.

Udo Baer