Wenn Viktor wegläuft

Eine Lehrerin erzählt in einem Gespräch:

„Viktor läuft weg, oft, wir Lehrerinnen und Lehrer sind dann aufgeregt. Denn er kann sich gut verstecken, in der Pause zwischen dem Gebüsch am Schulhof, im Schulgebäude in den vielen Räumen. Wir sind besorgt, weil er oft ein bisschen unberechenbar ist. Er ist 9 Jahre alt, ein Kind mit Down-Syndrom.“

Ich frage in der Schule: „Wissen oder vermuten Sie, warum Viktor wegläuft?“ Achselzucken. „Gibt es Anlässe, bei denen er wegläuft?“ Auch hier gibt es keine eindeutigen Antworten. Manchmal wird er im Flur angesprochen und er läuft, manchmal nicht. „Wo läuft er denn hin?“ Hier wird es klarer: „Im Schulgebäude meist in die Bibliothek.“ „Was ist dort anders als in anderen Räumen?“ „Da ist es am ruhigsten.“

Kinder wie Viktor und viele andere brauchen einen Rückzugsort. Viel stürmt auf sie ein. So wertvoll und wichtig alle Bemühungen um Inklusion sind, darf man nicht vergessen, auf die einzelnen Kinder zu schauen. Hatten sie früher in den Sonderschulen, Förderschulen und wie sie alle hießen, kleine Gruppen, so sind sie nun mit zahlreichen anderen Kindern zusammen. Viele Eindrücke stürmen auf sie ein und können sie überfordern. Dann ist das Weglaufen für sie sinnvoll. Viktor läuft dorthin, wo es Ruhe findet, im Gebüsch oder in der Bibliothek. Denn er kann nicht sagen, dass er überfordert ist und Ruhe braucht.

Wie Viktor geht es vielen anderen Kindern, auch solchen ohne besonderen Förderbedarf. Sie fühlen sich überflutet und fliehen. Manche rennen weg wie Viktor. Andere fliehen nach innen. Wieder andere halten aus, bis sie explodieren und „stören“.

Es ist wichtig, dass Lehrer/innen und Erzieher/innen darum wissen und die Kinder verstehen. Und es ist notwendig, dass mit den Kindern „Flucht“-Regelungen getroffen werden, damit sie reagieren können, bevor sie explodieren. Dafür braucht es in jeder Schule und in jeder Kita Rückzugsräume, Räume der Stille, Snoezelen-Räume oder ähnliche.