Vom Verstört-Sein als mögliches Zeichen für traumatische Erfahrungen

Eine Erzieherin fragt: „Welche Anzeichen gibt es bei Kindern, die auf traumatische Erfahrungen hinweisen können?“

Wenn Kinder von Eltern oder anderen Schläge und andere Gewalt erfahren, sind meist blaue Flecken oder andere körperliche Anzeichen festzustellen. Diese werden zwar oft zu verstecken oder weg zu erklären versucht, doch meist gibt es sichtbare körperliche Spuren.

Unsichtbar bleiben jedoch meist die Spuren sexueller Gewalt. Über solche traumatischen Erfahrungen dürfen Kinder und Jugendliche in der Regel genauso wenig berichten wie über Prügel. Das Schweigegebot ist mächtig. Die Kinder erzählen dennoch: durch und über ihr Verhalten.

Es gibt keinen Verhaltenskatalog, der auf traumatische Erfahrungen sexueller Gewalt hindeutet. Keine Aufzählungen von Symptomen oder Störungen. Alle Versuche, solche Kataloge aufzustellen, scheiterten an der Unterschiedlichkeit der Kinder und Jugendlichen. Doch eine Wirkung ist fast immer festzustellen: nicht eine konkrete Störung, sondern ein Verstört-Sein. „Stefan wirkt so verstört.“ oder „Liz ist in der letzten Zeit verstört.“ Solche Beobachtungen machen Erzieher/innen im Kindergarten oder Lehrer/innen in der Schule, Mitarbeiter/innen in Jugendeinrichtungen oder in Angeboten der Jugendhilfe.

Was ist das: verstört sein? Es zeigt sich bei jedem Kind, bei jedem Jugendlichen anders. Welches Wort man wählt, ist zweitrangig („neben der Kappe sein“, „durch den Wind“, „total daneben“, „völlig verpeilt“ …). Wesentlich ist, dass das Kind, der Jugendliche anders ist als vorher, also eine deutlich sichtbare Veränderung eingetreten ist. Bei manchen entwickelt sich die Veränderung langsam, bei den meisten relativ schnell. Und wesentlich ist, dass die Veränderung eine anhaltende und auffallende Verwirrung beinhaltet. Wenn zehn Menschen beschreiben sollten, was „Verstört-Sein“ für sie ausmacht, würden zehn unterschiedliche Aussagen herauskommen. Und doch wäre für alle eine bestimmte Qualität deutlich, die Verstört-Sein ausmacht.

Warum ist das Verstört-Sein so wichtig, auch wenn es noch andere Anzeichen und Hinweise gibt?

Weil eine traumatische Erfahrung sexueller Gewalt Kinder und Jugendliche existenziell erschüttert. Die Selbstverständlichkeit des Lebens und ihrer Unverletzlichkeit wird zerstört, sie werden als Objekte behandelt und fühlen sich in ihrem Erleben am oder im Abgrund. Das verändert die „Ordnung“ des Erlebens und Verhaltens radikal. Viele versuchen eine Zeit lang diese Ordnung aufrecht zu erhalten und so zu tun, wie es „vorher“ war. Doch den meisten gelingt das nicht oder nicht lange.

Die „Ordnung“ des Erlebens, der zwischenmenschlichen Kommunikation, des Verhaltens, manchmal der Sprache, des Gesichtsausdrucks, des Lernens … all das ist grundlegend gestört, die Kinder sind verstört.

Nun muss nicht jedes Verstört-Sein auf Erfahrungen sexueller Gewalt hindeuten. Es kann andere Ursachen haben, zum Beispiel drohende Trennung der Eltern oder ungelebte Trauer über den Verlust der Oma oder einer anderen geliebten Person. Doch immer sollte Verstört-Sein ein Anlass sein, sich um das Kind oder den Jugendlichen zu kümmern und dem nachzugehen. Mit eigenen traumapädagogischen Angeboten oder der Vermittlung in geeignete Hilfsangebote.