Auf die vielen Fragen von Eltern und anderen Erziehern, wie sie mit Wut, Zorn und anderen aggressiven Handlungen von Kindern und Jugendlichen umgehen sollen, gibt es keine eindeutigen Antworten. Zunächst ist wichtig, den Hintergrund des aggressiven Verhaltens zu suchen und zu erkennen. Darauf werde ich in mehreren Beiträgen eingehen.
Die elfjährige Mia hat die Schule gewechselt. Sie hatte sich gerade ganz gut eingewöhnt in der weiterführenden Schule, doch mussten die Eltern nach einem Jahr umziehen und wieder ging es darum, sich in einer neuen Klasse zurechtzufinden. Die anderen Mädchen, die sie interessierten, waren schon in relativ festen Gruppen oder lebten andere Freundschaften. Sie musste sich mit den Schülerinnen und Schülern zurechtfinden, aber auch mit den neuen Lehrern und Lehrerinnen. Zu Hause gab es viel Stress, weil sich der Vater in der neuen Arbeitsstelle bewähren und orientieren musste. Die Mutter führte ihre alte Halbtagstätigkeit im Homeoffice weiter. Mia litt auch darunter, dass sie ihre Großeltern seltener sehen konnte. Vorher lebten sie gleichsam um die Ecke, jetzt war eine aufwendige Fahrt notwendig, um sie zu besuchen. Sie wollte wieder dahin zurück, wo sie herkam, aber sie wusste, das ging nicht und sie fühlte sich rundum hilflos.
Ihre Hilflosigkeit entlud sich in Aggressivität. Sie war wütend, wusste aber nicht worauf, wurde immer pampiger und reagierte auf Annäherungen mit spitzen Bemerkungen. Das beeinträchtigte zusätzlich ihre sozialen Kontakte in der neuen Schule. Mia brauchte Hilfe, aber sie wusste nicht woher, weil alle die, die sie hätte um Hilfe bitten können, zu weit weg oder mit anderem beschäftigt waren. Hilflosigkeit ist eine wichtige und häufige Quelle aggressiven Verhaltens. Kinder und Jugendliche werden zornig auf das, was sie hilflos macht, und wissen oft nicht, wohin mit ihrem Zorn oder ihrem Ärger. Also äußern sich die Aggressionen wahllos und manchmal auch maßlos.
Was braucht Mia oder was brauchen Kinder in ähnlichen Situationen? Wer hilflos ist, braucht Hilfe. Mia braucht Menschen, die nicht so sehr über ihre aggressiven Äußerungen meckern, sondern die das, was sich dahinter verbirgt, erkennen und Mia Hilfe anbieten. Oft reicht es schon, über die Not zu sprechen und Verständnis dafür zu zeigen. In Mias Situation half es sehr, als sie mit ihrer Mutter darüber reden konnte. Sie führte dann ein Gespräch mit einer Lehrerin, die sie noch am ehesten „nett“ fand. Sie erzählte von ihrer Situation und teilte ihre Hilflosigkeit und ihren Frust auch später mit einer anderen Schülerin. So konnte Mia nach und nach kleine Brücken zu anderen bauen und sie fühlte sich mit ihrer Hilflosigkeit nicht mehr so allein. Die aggressiven Äußerungen verschwanden nach und nach, ohne, dass sie groß thematisiert werden mussten.