Die Monster der Entwürdigung

Kinder und Jugendliche können es verkraften, wenn sie mal übersehen, beschämt oder anderswie entwürdigt werden. Doch wiederholen sich solche Erfahrungen, dann haben sie nachhaltige Folgen. Deswegen ist es wichtig, sich mit den verschiedenen Entwürdigungen, denen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sein können, zu beschäftigen und ihnen entgegenzutreten. Ich habe die wichtigsten Erfahrungen der Entwürdigungen von Kindern und Jugendlichen in dem Bild der „Fünf Monster der Entwürdigung“ zusammengefasst.

Das Monster der Gewalt

Die bekanntesten Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen sind zunächst einmal Erfahrungen körperlicher Gewalt. Meistens bekommen sie Schläge, die nicht nur körperlichen, sondern auch seelischen Schmerz hinterlassen. Doch auch Blicke, Worte, der Klang der Stimme und Gesten können gewalttätig sein. Sie können ähnliche Folgen haben wie körperliche Schläge. Die stille Gewalt ist nicht so offensichtlich und weniger greifbar, doch entwürdigt sie Kinder und Jugendliche ebenso nachhaltig wie körperliche Gewalt. Auch sexuelle oder sexualisierte Gewalt ist im Wesentlichen Gewalt. Beim sogenannten „sexuellen Missbrauch“ geht es vorwiegend nicht um Sexualität, sondern um Machtausübung. Dies ist ein Teil des Monsters der Gewalt.

Das Monster der Erniedrigung

„Immer machst du alles falsch!“, „Du bekommst ja sowieso nichts auf die Reihe!“ „Aus dir wird nichts!“ – Wenn Kinder mit solchen und anderen Worten beschimpft werden, dann werden sie erniedrigt. Geschieht dies vereinzelt, dann können Kinder das mit Unterstützung von Erziehenden verkraften. Doch bleiben sie damit allein oder machen sie wiederholt solche Erfahrungen, entsteht in ihnen oft das Grundgefühl, wertlos zu sein. Ihr sogenannter „Innerer Ort“, von dem aus sie sich und ihre Welt bewerten, Entscheidungen treffen und ihr Selbstbewusstsein entwickeln, kann so brüchig werden, wird zumindest aber verunsichert und kleingehalten.

Das Monster der Beschämung

Scham hat wie jedes Gefühl einen Sinn. Die natürliche Scham schützt uns Menschen davor, dass wir unser Intimes preisgeben, und warnt uns, falls wir das getan haben oder dazu neigen. Die natürliche Scham ist der Wächter der Grenzen der menschlichen Intimität. Dann gibt es eine andere Seite der Scham, die nicht zur natürlichen Scham zählt und auch nicht von innen, sondern von außen kommt. Das ist die Beschämung. Da werden Geschichten über Kinder in ihrem Beisein erzählt, die ihnen peinlich sind. Da werden Fotos oder Filmaufnahmen mit Missgeschicken des Kindes ins Internet gestellt. Da werden Kinder und Jugendliche als „zu“ … beschämt: Du bist zu dick, zu ausländisch, zu dünn, zu schlau, zu dumm, zu tollpatschig, zu sensibel, zu frech usw. …

Kinder und Jugendliche leiden unter solchen Erfahrungen. Schamgrenzen werden aufgeweicht oder gar zerstört. Manche fangen selbst an, andere zu beschämen oder achten nicht mehr auf die eigenen Grenzen der Intimität. Andere ziehen sich zurück und wagen es nicht mehr, sich in der Öffentlichkeit oder in anderen Beziehungen mitzuteilen und zu zeigen. Beschämung hat nachhaltige Folgen.

Das Monster der Entwürdigung: Ins Leere gehen

Wenn ein Kind eine Hand ausstreckt und da ist niemand, wenn es etwas mitteilen will und es wird nicht gehört oder übertönt, wenn es sich anlehnen will und da ist keiner, an den es sich anlehnen kann, wenn es Druck erfährt, statt gedrückt zu werden, wenn es hilfesuchend nach anderen Menschen schaut und niemanden findet oder der Blick nicht erwidert wird – dann sind dies entwürdigende Erfahrungen der Leere. Wenn Kinder und Jugendliche ins Leere gehen, entsteht in ihnen das Gefühl, dass sie es nicht wert sind, gesehen und gehört zu werden, gehalten zu werden und Schutz zu erfahren. Viele Kinder machen solche Leere-Erfahrungen schon in sehr frühem Alter. Andere erfahren die Leere, wenn sie Gewalt und andere Not erlebt haben. Sie brauchen Trost, Halt und Parteilichkeit, erfahren sie aber nicht, sondern bleiben allein. Manche versuchen dann, die Begegnung mit anderen Menschen durch aggressive Handlungen zu erzwingen. Andere ziehen sich zurück und resignieren. Wenn Kinder und Jugendliche ins Leere gehen, entwürdigt und schmerzt sie dies nachhaltig.

Das Monster der giftigen Atmosphären

Was Menschen in ihren Gefühlen und Stimmungen und ihrem sonstigen Erleben empfinden, strahlt aus und kann die Atmosphäre zwischen Menschen beeinflussen. Und umgekehrt kann die Atmosphäre, die in einem Erlebensraum zwischen Menschen existiert, das Erleben jedes Einzelnen bestimmen. Manche dieser Atmosphären sind giftig. Sie entwürdigen die Kinder und Jugendlichen, die in ihnen aufwachsen müssen.

Solche giftigen Atmosphären können darin bestehen, dass sie voller Druck sind und Kinder und Jugendliche niederdrücken. Andere Kinder leben in Atmosphären, die durch Bitterkeit geprägt sind oder in Atmosphären der ständigen Angst vor allem. Wieder andere befinden sich in Atmosphären, die durch Schuldgefühle geprägt sind, die für die Kinder dann selbstverständlich werden und dazu führen, dass sie sich wegen allem schuldig fühlen, was geschieht. Auch solche Atmosphären sind ein Monster der Entwürdigung. Sie werten Kinder und Jugendliche ab und führen dazu, dass sich die jungen Menschen für wertlos halten oder verzweifelt um ihren Selbstwert kämpfen.

Die Monster der Entwürdigung gilt es zu erkennen. Kinder und Jugendliche, die ihnen ausgeliefert sind, brauchen Unterstützung und Parteilichkeit der Erwachsenen.