Was mache ich, wenn bei meinem Kind Realität und Fantasie zu sehr verschwimmen?

Manche Kinder leben so sehr in ihren Fantasiewelten, sind allem Anschein nach so sehr in ihnen gefangen, dass sie zwischen der Realität und der Fantasie kaum mehr unterscheiden können, manchmal gar nicht. Haben Sie den Eindruck, dass dies auf Ihr Kind zutrifft? Machen Sie sich große Sorgen? Was bedeutet für Sie „zu sehr“? Wenn es in der Überschrift heißt: Wenn Realität und Fantasie „zu sehr“ verschwimmen: Was ist Ihr Maßstab, Ihre Bewertung? Ich weiß, dass Sie mir diese Frage nicht wirklich beantworten können, aber ich möchte mit ihr Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es für dieses „Zu“ in der Bewertung wie fast immer keine absoluten Maßstäbe und keine objektiven Regelungen gibt, auch wenn Menschen außerhalb der Familie die Eltern (und Kinder) immer wieder damit verunsichern, wenn sie so tun, als ob es sie gäbe. Mein Maßstab für die Entscheidung, ein Verhalten als „zu … „ zu bewerten, besteht darin, wenn Kinder subjektiv darunter leiden und auch, wenn die Erwachsenen, die mit ihnen zusammenleben, darunter zu leiden beginnen, sowohl in der Identifikation mit dem Kind als auch als erwachsenes Gegenüber.

Bei vielen Kindern verschwimmen Realität und Fantasie. Wenn sie Filme sehen, Bücher lesen oder vorgelesen bekommen, wenn sie CDs hören oder anderes in ihre fantastische Innenwelt integrieren oder selbst Fantasien entwickeln, dann ist das normal. Kinder müssen sich die Welt erschließen. Sie können nie die Welt in allen Facetten verstehen. Also nehmen sie ihre Fantasie zur Hilfe und bauen sich ihre eigenen Realitäten, so fantastisch sie auch sein mögen. Manchmal ist die Realität zu langweilig und da hilft das Fantasieren und das Tagträumen dazu, die Welt interessanter zu gestalten. Manchmal aber – und diesen Aspekt will ich hier nicht verschweigen, auch wenn ich Ihrer Frage keinerlei Hinweis darauf entnehmen kann, verschwimmen Realität und Fantasie tatsächlich sehr, weil ein Kind die Realität als unaushaltbar empfindet. Dann muss es sich in seine Fantasie flüchten, um seelisch zu überleben. Wenn ich solchen Kindern in meiner Praxis begegnet bin, dann habe ich sie oft als sehr einsam und überfordert erlebt durch etwas, was in ihrer Umgebung passiert, oder gerade durch das, was nicht geschieht, also wenn sie ins Leere gehen oder wenn sie starke Spannungen fühlen, die nicht ausgesprochen werden.

Wenn Kinder und wohlwollende andere nahe Menschen in ihrer Lebensumwelt darunter leiden, dass Realitäten und Fantasien zu sehr verschwimmen, dann ist meiner Erfahrung nach ein Königsweg, danach auf Suche zu gehen und herauszufinden: Was könnte dem Kind  in der Realität fehlen? Was könnte es als unaushaltbar empfinden sein? Was könnte es überfordern? Absicht kann und darf nicht sein, dass das Kind „lernt“, Realität und Fantasie fein säuberlich zu trennen, sondern die Quelle dieses Verschwimmens als Überforderung und Flucht anzuerkennen und ihre Kraft zu verringern. Dann, da bin ich zuversichtlich, reguliert sich der Rest von allein.