Meine Frau ist seit fünf Jahren krank und das bleibt so. Was kann ich für unsere Kinder tun?

Es ist sehr gut, dass Sie und Ihre Frau sich darüber Gedanken machen. Als Antwort und Anregung erzähle ich Ihnen eine Geschichte aus meiner Praxis:

Als Melanie in meine therapeutische Praxis kam, fragte ich sie, wie es ihr ginge. Die Elfjährige zuckte mit den Schultern. Ich lud sie ein, die bereit stehenden Musikinstrumente auszuprobieren. Sie probier te die meisten aus, vom Klavier bis zur Ocean-Drum. Bei einer kleinen Zither blieb sie und wiederholte immer wieder einen Ton, einen einzigen Ton. Erst in mittlerer Lautstärke, dann immer leise werdend, schließlich kaum hörbar … „Was hörst du?“, fragte ich. „Mich … Ich bin kaum noch da.“

Als ich nachfragte, erzählte sie, dass ihre Mutter krank sei, „schon lange, die hat was mit so einem komischen Namen“. Und: „Die Krankheit ist so laut, da werde ich immer leiser.“ Sie begann zu weinen. Dies war der Beginn einer Veränderung. Zum ersten Mal hatte sie, wie sie sagte, über sich und die Krankheit der Mutter sprechen können. In der Folge erzählte sie immer mehr, in Worten und in den Klängen der Instrumente, welche Auswirkungen die Erkrankung auf sie hatte. Von sechs solchen Auswirkungen, die ich von Melanie und anderen Kindern erfahren habe, werde ich im Folgenden berichten und gleichzeitig Hinweise geben, was die Kinder und Jugendlichen brauchen.

Kinder und Jugendliche neigen dazu, Verantwortung für das Leiden von Eltern zu übernehmen, und entwickeln entsprechende Schuldgefühle. Diese werden nicht ausgesprochen, haben aber eine große Kraft. Alles, was Kinder sich nicht erklären können, beziehen sie auf sich. Auch wenn es den Erkrankten schlechter geht, geschieht dies. Sie machen sich Druck und werden unsicherer. Was hilft, ist zu sagen: Du bist nicht schuld! Nicht nur einmal, sondern immer wieder!

Kinder und Jugendliche erkrankter Eltern neigen auch dazu, die Erkrankten zu schonen. Das führt zu Rückzug, oft auf beiden Seiten. Sie schonen die Eltern. Die Erkrankten haben selbst oft Schuldgefühle, die Kinder zu vernachlässigen, und ziehen sich ebenfalls zurück oder reduzieren ihre Anforderungen. Das kann zu Distanz führen, mit der alle Betroffenen unzufrieden und unglücklich sind.

Was hilft: Alles aussprechen, man von den anderen wünscht. Auch aussprechen, was an den anderen nicht passt, und Reibung suchen. Reibung schafft Wärme.

Das wichtigste Forschungsergebnis bei Untersuchungen der Folgen vor allem chronischer oder langandauernder Erkrankungen für Kinder besteht in der „Parentisierung“ (engl. Parenting = „Verelterlichung“). Damit ist gemeint, dass Kinder zu früh erwachsen werden und kindliches Spiel und kindliches Verhalten zu kurz kommt. Kinder, die schon früh Verantwortung für die Eltern übernehmen – auch wenn diese das gar nicht wollen – neigen dazu, erwachsenen verantwortlichen Personen nachzueifern und selbst zu früh erwachsen zu werden.

Was hilft: De-Parentisierung. Spielen, spielen, spielen. In der Familie und außerhalb. Im Sportverein, in der Tanzgruppe, überall, wo Kinder mit anderen Kindern kindlich und kindisch sein können. Erwachsenen brauchen den Mut, Spielräume für die Kinder auch außerhalb der Familie zu ermöglichen, wenn sie in der Familie nicht mehr möglich sind.

Kinder und Jugendliche haben Angst um Vater oder Mutter, sie sorgen sich und sind voller Sehnsucht, dass „alles wieder gut“ wird. Das gilt für die Kleinen ebenso wie für die pubertierenden Jugendlichen (die es aber nicht zeigen können). Was hilft: Dies zu wissen. Dies zuzulassen. Angst und Sorge sind normal. Wenn Erwachsene und insbesondere erkrankte Erwachsene über ihre Ängste und Sorgen sprechen, sind sie Vorbilder für ihre Kinder, dass Gefühle geteilt und mitgeteilt werden können. Beides gilt es zu teilen: die Angst und die Zuversicht. Nicht entweder-oder. Ein Lob des Und.

Viele Erkrankte schweigen über die Erkrankung, die Sorgen und Ängste und wollen niemanden belasten. Untersuchungen zeigen: Schweigen belastet Angehörige, besonders Kinder, mehr als das Reden. Wenn Sie ein Trauma oder eine tiefe Angst an die Kinder weitergeben wollen, dann verschweigen Sie es. Das Schweigen wird zu einem „schwarzen Loch“, das Energie anzieht. Was hilft: Reden. In den Selbsthilfegruppen und in der Familie.

Chronische lebenseinschränkende und lebensgefährdende Erkrankungen werfen Sinnfragen auf. Gerade Jugendliche beschäftigen sich sowieso damit. Fragen nach Leben und Tod lassen auch Fragen nach dem ungelebten Leben entstehen. Was hilft: Über Sinnfragen reden, sich austauschen. Auch in der Selbsthilfe. Beginnen Sie damit, sich mit sich und mit anderen Erwachsenen darüber auseinanderzusetzen, was Sie in Ihrem Leben für sinnhaft halten. Und dies ganz konkret: Was ist heute sinnvoll bei dem, was Sie tun? Was stimmt morgen mit Ihren Werten und Grundüberzeugungen überein, mit Ihren Sehnsüchten und Ihrer Lebendigkeit? Wenn Sie sich damit auseinandersetzen, erzählen Sie den Kindern davon, auch wenn Sie vielleicht mehr Fragen als Antworten haben. In jedem Fall ermutigt es die Kinder und Jugendlichen, mit Ihnen über deren Sinnfragen ins Gespräch zu kommen.

Viele Erkrankte wollen sich mit ihrem Leiden den Kindern und Jugendlichen nicht zumuten, um sie nicht zu überfordern. Doch Zumuten ist auch positiv und hilft. Der Bestandteil „mut“ in „Zumuten“ kommt aus dem indogermanischen „muot“ und bedeutet „Seele“. Zumuten in diesem Sinn meint, seine Seele anderen zuzuwenden. Deshalb: Muten Sie Ihre Seelen anderen zu. Die Kinder und Jugendlichen werden es Ihnen danken. Melanie ist lauter geworden. Im Gespräch mit ihren Eltern wünschte sie sich, mehr von ihnen zu erfahren, von ihren Sorgen und Ängsten. Diese waren gerührt und überrascht, da sie sich bemüht hatten, die Krankheit und deren Folgen von Melanie fernzuhalten. Doch Melanie liebte ihre Eltern. Sie wollte nicht ferngehalten werden, mit nichts. Dazu musste und durfte sie lauter werden.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie und Ihre Frau viele glückliche Spielzeiten mit Ihren Kindern haben.