Udo Baer
Eltern (und Großeltern) verspüren oft den Impuls, ihren Kindern (und Enkeln) Ratschläge zu geben, wie sie ihr Leben zu gestalten haben. Anlass sind meist konkrete Lebensentscheidungen der jüngeren Generation, die bei den Älteren Reaktionen zwischen Sorge und Entsetzen hervorrufen.
Einige Beispiele:
- Die 18jährige Tochter verliebt sich in einen zehn Jahre älteren Mann, der sich beruflich gerade in einer „Übergangsphase“ befindet, wie er sagt. Die Eltern meinen: er ist arbeitslos. Dieser Mann ist den Eltern unsympathisch. Das sagen sie ihrer Tochter aber nicht, sondern führen als argument gegen diese Verbindung den „großen Altersunterschied“ an. Die Tochter ist empört und will sich ihre Liebe „nicht kaputtmachen lassen“. Sie sagt, dass die Großeltern mütterlicherseits auch einen Altersunterschied von acht Jahren hatten und verweigert weitere Gespräche mit den Eltern.
- Der 26jährige Sohn erzählt seinen Eltern, dass er sein Studium abbrechen möchte. Er will ein Jahr lang durch die Welt trampen, um „zu sich zu finden“ und zu entdecken, „wer er eigentlich ist“ und „was er eigentlich will“. Seine Mutter ist fassungslos. Der Vater hat auch immer von einem solchen Jahr geträumt, traut sich aber nicht, das zu sagen und unterstützt die Mutter. Der Tenor ihrer Klagen lautet: „Was soll nur aus dir werden!?“ Ihr Rat geht dahin, doch zunächst einmal das Studium fertig zu machen, „Dann kannst du immer noch eine Pause machen und überlegen, was du willst.“ Die Großeltern väterlicherseits meinen, dass ihr Enkel „in der Gosse landen wird“. Ein solches Verhalten steht ihrem Weltbild diametral entgegen, das durch Disziplin und „Durchhalten“ geprägt ist. Der Sohn schimpft auf Eltern und Großeltern. „Ihr wollt mir mein Leben kaputt machen. Es ist doch mein Leben!“
- Die 41jährige Tochter hat sich in einen anderen Mann verliebt. Beide sind verheiratet. Beide haben jeweils zwei Kinder. Die Tochter möchte sich von ihrem Ehemann trennen. Ihr neuer Partner „wohl auch“. Die Eltern machen sich große Sorgen, vor allem um die Enkel. Sie mögen ihren Schwiegersohn und bereuen sehr, dass die Ehe gescheitert ist. Sie wollen ihrer Tochter raten, doch noch einmal eine Paartherapie zu versuchen, um zu sehen, welche anderen Möglichkeiten noch bestehen. Und sie sind misstrauisch gegenüber dem neuen Partner. Sie denken: „Wahrscheinlich sucht der nur jemanden, der sich um seine Kinder kümmert.“ Doch sie sagen ihrer Tochter ihre Bedenken nicht, sondern hören ihr zu und meinen: „Du musst wissen, was du tust.“ Doch ihre Sorge steht nun zwischen ihnen. Die Selbstverständlichkeit der Kommunikation ist gestört, vielleicht sogar zerstört.
Solchen Beispielen lassen sich sicherlich zahlreiche andere hinzufügen. Die Folgen sind fast immer, dass die Verbindungen zwischen den Angehörigen der verschiedenen Generationen gestört werden. Die Jüngeren wollen etwas erzählen und möchten manchmal „den Segen der Älteren“. Oft suchen sie auch Unterstützung, zumindest das Wohlwollen der Eltern oder Großeltern. Auf die Sorgen und Ratschläge der älteren Generation reagieren sie meistens allergisch. Sie betonen, dass es um ihr Leben geht und um ihre Entscheidungen und dass das niemand anderen „etwas angeht“. Sie empfinden die Intervention der Älteren als Einmischung. Der elterliche Rat, der oft aus Sorge erwächst, führt zu dem Gegenteil des Beabsichtigten. Die Jüngeren bleiben erst recht bei ihrer Haltung, versteifen sich darin und schaffen Distanz zu den Älteren.
Manche Eltern und Großeltern halten sich nicht an das Recht auf die Eigenständig-keit der Jüngeren, sondern geben ungefragt und unerwünscht ihre Ratschläge. Diese wirken dann oft wie Schläge. Doch die meisten haben durchaus Respekt davor, dass die Kinder und Enkel ihr eigenes Leben leben dürfen und sollen. Und sie haben Sorge, dass sie mit ihren Ratschlägen die Jüngeren verletzen könnten. Doch die Sorge um das Wohlergehen der Kinder und Enkel ist so groß, dass sie sich nicht heraushalten können, sondern einmischen. Der Preis ist oft hoch.
Sie schwanken dazwischen, sich auf der einen Seite herauszuhalten und die Kinder einfach „machen zu lassen“, und andererseits ihre Sorgen ernst zu nehmen, dass den Kindern und Enkeln Schlimmes widerfährt und sie „in ihr Unglück rennen“.
Welche dieser beiden Haltungen berechtigt ist, kann nicht eindeutig und allgemeingültig entschieden werden. Es gibt keine Rezepte und kein Maß für die jeweiligen Zutaten. Die jüngeren Generationen haben ein Recht darauf, ihr eigenes Leben zu leben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, ihre eigenen Fehler zu machen. Und die Älteren haben ein Recht, ihre Sorgen ernst zu nehmen und nicht über sie hinwegzugehen. Notwendig ist, sich diese beiden Seiten bewusst zu machen und Wege zu suchen, bei zu respektieren. Das ist nie einfach. Doch die folgenden fünf Empfehlungen können eine Orientierung geben.
Jeder Mensch der älteren Generation wird in den genannten Konliktfällen unterschiedlich agieren und reagieren. Wer selbst darunter gelitten hat, dass andere sich eingemischt haben, wird vielleicht einer eher offenen und toleranten Haltung gegenüber den Jüngeren zuneigen. Wer in seiner Suche nach Rat eher ins Leere gegangen ist und die Erfahrung gemacht hat, Irrwege eingeschlagen zu haben, vor denen er gerne bewahrt worden wäre, wird wahrscheinlich dazu tendieren, Ratschläge zu geben, auch ungefragte. Die biografischen Erfahrungen beeinflussen das eigene Verhalten. Deswegen ist es sinnvoll, sich mit ihren zu beschäftigen und sich zu fragen: Wobei hätte ich gerne einen Rat gehabt und wobei nicht? Wie hätte dieser Rat erfolgen sollen und wie nicht? Das ist der erste Hinweis. Niemand muss genauso handeln, wie er es früher erfahren hat oder gern erfahren hätte. Doch die eigenen Erfahrungen sind ein Anlass der Reflektion und ein Nachdenken wert.
Die zweite, noch wichtigere Empfehlung lautet: Erst zuhören, dann reden. Viele Jüngere wollen, dass ihnen einfach mal jemand zuhört. Wenn sie dann nach drei Sätzen sehen, wie sich die Stirn runzelt und ihnen nach vier Sätzen der erste Kommentar oder Ratschlag entgegenkommt, dann wird das Reden ebenso abgebrochen wie das Bedürfnis, gehört zu werden. Frau S. zum Beispiel sagte nach dem gemeinsamen Mittagessen beim sonntäglichen Besuch ihrer Eltern, dass sie aus der Kirche austreten wolle. Die Eltern, tiefgläubige Christen, waren konsterniert, fassungslos. Das war für sie unvorstellbar und sie reagierten sofort empört über diese „Gottlosigkeit“. Sie fühlten sich in ihrem eigenen Glauben angegriffen und verteidigten ihn wortreich. Die Tochter verteidigte sich ebenfalls und meinte: „Mit 35 kann ich doch nun selber entscheiden, ob ich in der Kirche bin oder nicht.“ Sie kam gar nicht mehr dazu, den Eltern zu erzählen, dass sie weiterhin sehr gläubig sei und mit ihrem Glauben keinerlei Probleme habe, wohl aber mit der Institution Kirche so viele schlechte Erfahrungen gemacht hat, dass sie nun austreten wolle.
Solche Erfahrungen und viele ähnliche zeigen, wie sinnvoll es ist, als Älterer etwas Geduld zu haben und zunächst einmal zu hören, was die Kinder oder Enkel überhaupt zu sagen haben.
Dazu gehört als dritte Empfehlung, zu fragen, zu fragen, zu fragen. Schon beim Zuhören zeigen Zwischenfragen das eigene Interesse an der erzählenden Person. Sie verwandeln ein passives Zuhören in ein aktives und schaffen einen gemeinsamen Boden zwischen allen Beteiligten. Beim Fragen gibt es zwei Schlüsselelemente. Das eine ist das Konkretisieren. Der 17jährige F. will seine Ausbildung abbrechen. Die Eltern sind entsetzt und erschrocken. Doch sie halten sich zunächst zurück und fragen: „Was gefällt dir denn nicht an deiner Ausbildung? Was denn genau? Ist da etwas vorgefallen? Hast du Ideen, was du lieber machen möchtest? …“ So erfahren sie, dass F. sich oft respektlos behandelt fühlt und das Klima an seinem Ausbildungsplatz sehr bedrückend ist. So können sie seine Reaktion verstehen. Durch das konkretisierende Nachfragen haben sie schon das zweite Schlüsselelement des Fragens genutzt. Es besteht darin, nach den Motivationen für eine Entscheidung zu fragen und dabei besonders nach den Gefühlen. F. fühlt sich unwohl und nicht respektiert. Durch das Nachfragen zeigen die Eltern, dass sie ihren Sohn respektieren. Und sie fragen nach, woran er denn konkret die Respektlosigkeit merkt. Sie kommen schließlich überein, dass er noch nicht sofort die Ausbildung kündigt, sondern zunächst das Gespräch mit einem älteren Arbeitskollegen sucht, um ihn nach Unterstützung zu fragen und nach Möglichkeiten zu suchen, etwas zu verändern. Parallel dazu kann und will er sich nach einer anderen Ausbildungsmöglichkeit umsehen. Und selbstverständlich besteht eine wichtige Frage darin: „Möchtest du dazu meine Meinung hören?“
Die vierte Orientierung kann darin bestehen, dass die Älteren in den Gesprächen mit den Jüngeren keine Du-Sätze, keine Du musst-, Du solltest-Anforderungen aufstellen. Wenn Ältere meinen, den Jüngeren einen Rat zu geben, dann ist es erfolgversprechend, in Ich-Sätzen zu sprechen. „Ich habe als junger Mensch die Erfahrung gemacht, dass … .“ Oder: „Ich sorge mich um das … .“ Solche Ich-Sätze bieten dem Gegenüber die Möglichkeit, Ja oder Nein zu dem zu sagen, was man hört, Erfahrungen anzunehmen oder zurückzuweisen.
Der letzte Hinweis besteht darin, sich an dem großen UND zu orientieren. Wir Menschen denken oft, wir müssten dieses ODER jenes machen. Doch die Realität des Lebens ist oft eine andere. Vieles verbindet sich mit dem großen UND. Wir können zum Beispiel jemanden lieben UND mit einigen von seinen Verhaltensweisen nicht einverstanden sein. Wenn Angehörige der älteren Generation den Jüngeren sagen: „Ich mache mir Sorgen, dass dies oder jenes geschieht, UND ich weiß, dass du das gut hinbekommst.“ „Ich bitte ich, dies oder jenes zu bedenken, UND ich weiß, dass du diesen Rat jederzeit ausschlagen kannst.“ Die Sprache und Haltung des großen UND gibt den Angehörigen der jüngeren Generation die Chance, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen UND gleichzeitig den Älteren zuzuhören. Für die Älteren verbindet es Vertrauen mit der Möglichkeit, den eigenen Sorgen nachzugehen.