Auf die vielen Fragen von Eltern und anderen Erziehern, wie sie mit Wut, Zorn und anderen aggressiven Handlungen von Kindern und Jugendlichen umgehen sollen, gibt es keine eindeutigen Antworten. Zunächst ist wichtig, den Hintergrund des aggressiven Verhaltens zu suchen und zu erkennen. Darauf werde ich in mehreren Beiträgen eingehen.
Tom ging eigentlich gern zur Schule und traf sich häufig und freudig mit anderen Kindern aus seiner Schulklasse oder aus der Nachbarschaft. Doch in der letzten Zeit wurde er zunehmend nörgelig. Er begann auf andere Kinder zu schimpfen, auf den Trainer im Fußballverein und auch auf die Eltern. Als ich ihn gemeinsam mit seinen Eltern traf und wir uns unterhielten, spürte ich eine gereizte Stimmung zwischen den Dreien. Später, als ich mit Tom allein war, bat ich ihn, seine Familie und seinen engeren Freundeskreis mit Figuren aufzubauen, die ich ihm in einer Kiste zur Verfügung stellte: Tierfiguren, Legofiguren, Playmobil, alles durcheinander … Er wählte für sich ein kleines Hündchen, für seinen Vater einen Ritter, der mit einem Schwert bewaffnet war, für seine Mutter ein Monster mit langen Krallen und einer sehr hässlichen Fratze. Im Gespräch darüber wurde deutlich, dass die Eltern sich in den letzten Wochen zunehmend stritten. Egal, worum es ging, es war sofort Streit im Raum. Sie kämpften um etwas, ohne dass Tom wusste, worum sie eigentlich kämpften. Auch wenn der Anlass ihm nichtig erschien, ging es „zur Sache“, wie er sagte. Er fühlte sich immer kleiner und immer weniger beachtet, obwohl die Eltern sich Mühe gaben, sich um ihn zu kümmern. Dieses negative Vorbild der Eltern färbte zunehmend auf ihn ab. Die Atmosphäre schuf eine schlechte Laune und er lernte von seinen Eltern, ohne dass sie es wollten, Konflikte mit Aggressionen auszutragen. Unterschiedliche Meinungen oder Sichtweisen nebeneinander stehen zu lassen, war nicht mehr möglich. Die aggressive Konflikthaltung der Eltern färbte auf ihn ab.
Solchen Vorgeschichten von Aggressivität begegne ich oft. Eltern und auch andere Erwachsene sind Vorbilder, ob sie das wissen oder nicht. Nicht so sehr, was wir Erwachsenen wollen oder sagen, färbt auf die Kinder ab, sondern wie wir handeln. Und wenn wir Konflikte immer wieder oder zunehmend mit Ärger, Wut und Zorn austragen und in aggressiven Äußerungen und Handlungen, dann lernen Kinder, dass man bei Konflikten aggressiv sein muss. Manche Kinder verstummen dann und ziehen sich verschreckt zurück, andere übernehmen die Aggression und verhalten sich dementsprechend.
Tom brauchte Unterstützung, aber diese Unterstützung musste vor allem an den Eltern ansetzen. Die Ehe war gefährdet und es galt, mit den Eltern darüber zu reden und nach Wegen zu suchen, wie sie ihre Unterschiede und Konflikte nicht so sehr im kalten oder heißen Krieg austrugen, sondern auf andere Art und Weise. Es war für sie auch wichtig, mit Tom darüber zu reden, was gerade in der Ehe kriselte, damit Tom wenigstens wusste, worum es ging und woran er war. Ohne diese Quelle der Aggressivität anzugehen, war eine Unterstützung für Tom nicht möglich.