Ich höre in meinen Seminaren, bei Diskussionen nach Vorträgen oder bei anderen Gelegenheiten öfters von Kindern, die nicht mehr weinen. Selbst wenn sie geschlagen wurden, weinen sie nicht. Wenn sie Verluste haben, weinen sie nicht. Sie wirken erstarrt und ‚cool‘.
Solche Kinder sind oft im Schrecken erstarrt. Manchmal haben sie traumatische Erfahrungen machen müssen. Häufig mussten sie Verluste erleben, die sie nicht betrauern durften oder konnten. Sie kennen es nur, stark zu sein oder Opfer. Häufig haben sie auch Angst, sich „aufzulösen“ oder zu „verschwinden“, wenn sie Schwäche zeigen, die sie mit Gefühlen gleichsetzen. Wenn ich von solchen Kindern höre oder ihnen begegne, versuche ich oft herauszufinden, was sie in diesen Schreckzustand und diese schreckliche Starre versetzt hat. Manchmal gelingt das, aber nicht immer. Gute Erfahrungen habe ich damit gemacht, die Kinder anzusprechen und ihnen zu sagen: „Ich spüre oder vermute, dass dich etwas sehr erschrocken hat oder dass du etwas Schlimmes erlebt hast. Wenn du nicht darüber reden möchtest, ist das okay. Aber wenn das anders wird, wenn du darüber sprechen möchtest, dann bin ich für dich da, dann stehe ich für dich bereit. Denn ich interessiere mich für dich.“ Das erstaunt diese Kinder meistens. Manchmal kommen sie zu einem späteren Zeitpunkt zu mir und schütten ihr Herz aus.
Und ich rate allen Erwachsenen, die mit einem solchen Kind zu tun haben, Vorbild zu sein, also auch Gefühle zu zeigen. Nicht immer nur zu sagen: „Mir geht es gut“, sondern auch mal zu äußern: „Ja. Ich bin heute schlecht drauf, denn dies oder jenes ist mir passiert.“, oder; „Ich habe schlecht geschlafen.“, oder: „Ich habe mich sehr über einen Freund oder eine Freundin geärgert.“ Gerade solche Kinder brauchen Vorbilder durch die Erwachsenen, die auch ihre Gefühle zeigen und nicht immer nur so tun, als wären sie in jeder Situation stark. Die Kinder erhalten damit die Erlaubnis, auch weinen zu dürfen oder zumindest traurig sein zu dürfen.
Dadurch kann bei den Kindern etwas in Bewegung geraten. Es geht nicht darum, dass sie plötzlich ihr Herz ausschütten und alles aus ihnen herausbricht. Mein Bild ist eher das eines Adventskalenders, in dem sich ein Türchen öffnet und wieder zugeht, aber das nächste öffnet sich dann usw.. Sie öffnen sich, bekommen den Mut, auch Schwäche zu zeigen oder weinen zu dürfen und etwas, was ihnen widerfahren ist, mitzuteilen. Einen solchen Mut zu finden ist ein Prozess, der dauert und viele kleine Schritte beinhaltet.